Toechter Aus Shanghai
schon Schlimmeres erlebt als das hier. Sie wird ein weiteres Kind bekommen.«
Der Arzt schüttelt den Kopf. »Es tut mir leid, aber sie wird kein Kind mehr bekommen können.« Er sieht mich an. »Sie können froh sein, Ihre Tochter zu haben.«
Zuversichtlich drückt May meine Hand. »Das haben die Ärzte schon mal gesagt, und es hat trotzdem geklappt. Sam und du, ihr könnt es wieder probieren.«
Ich finde, das sind so ungefähr die schlimmsten Worte, die ich je gehört habe. Ich will schreien: Ich habe mein Kind verloren! Wieso weiß meine Schwester nicht, wie ich mich fühle? Warum versteht sie nicht, was es bedeutet, diesen Menschen verloren zu haben, der seit neun Monaten in mir wuchs, den ich von ganzem Herzen liebte, den ich mit so vielen Hoffnungen überhäufte? Doch Mays Worte sind noch nicht die schlimmsten, die ich hören werde.
»Das wird leider nicht mehr gehen.« Der Arzt maskiert das Grauen seiner Aussage mit der sonderbaren Fröhlichkeit und dem zuversichtlichen Lächeln der lo fan . »Wir haben alles herausgenommen.«
Ich kann vor diesem Mann nicht weinen. Ich richte den Blick auf meinen Jadearmreif. Seit Jahren ist er unverändert, und er wird noch lange nach meinem Tod Bestand haben. Er wird immer hart und kalt sein - lediglich ein Stück Stein. Doch für mich ist er ein Gegenstand, der mich mit der Vergangenheit verbindet, mit Menschen und Orten, die es nicht mehr gibt. Seine immerwährende Perfektion ist eine greifbare Mahnung, am Leben zu bleiben, in die Zukunft zu blicken, das wertzuschätzen, was ich habe. Er fordert mich auf, die Zähne zusammenzubeißen. Ich werde einen Morgen auf den nächsten erleben, einen Schritt nach dem anderen machen, weil mein Lebenswille so stark ist. Das alles rede ich mir ein und stähle mein Herz, um meinen Kummer zu verbergen, doch das hilft alles nicht, als meine Familie ins Zimmer kommt.
Yen-yens Gesicht ist eingefallen wie ein Mehlsack. Vaters Augen sind so stumpf und dunkel wie Kohlen. Vern nimmt die Nachricht körperlich auf, sackt vor den anderen zusammen wie ein Kohlkopf nach einem schlimmen Gewitter. Doch Sam … Ach, Sam. In jener Nacht vor zehn Jahren, als er mir sein Leben erzählte, sagte er, er bräuchte keinen Sohn, aber in den vergangenen Jahren habe ich gesehen, wie sehr er einen Sohn wollte - brauchte -, einen Sohn, der seinen Namen tragen würde, der ihn als Ahnen verehren würde, der all die Träume leben würde, die Sam niemals selbst wird umsetzen können. Ich habe meinem Ehemann Hoffnung gegeben, und jetzt habe ich sie zerstört.
May drängt die anderen aus dem Zimmer, damit Sam und ich allein sein können. Aber mein Mann - dieser Mann mit seinem eisernen Fächer, der so stark aussieht, der alles heben und tragen kann, der eine Demütigung nach der anderen schluckt - dieser Mann kann seine Brust nicht öffnen, um meinen Schmerz auf sich zu nehmen.
»Während wir warten mussten...« Die Stimme versagt ihm. Er verschränkt die Hände hinter sich und läuft auf und ab, bemüht, Haltung zu bewahren. Dann versucht er es erneut. »Während wir warten mussten, habe ich einen Arzt gebeten, Vernon zu untersuchen. Ich sagte dem Arzt, mein Bruder hätte einen schwachen Atem und dünnes Blut«, erklärt Sam, als würden unsere chinesischen Vorstellungen einem westlichen Arzt etwas sagen.
Ich möchte mein Gesicht an seine warme, duftende Brust drücken, die Kraft seines eisernen Fächers spüren und seinen gleichmäßigen Herzschlag hören, doch Sam weicht meinem Blick aus.
Er bleibt am Fußende des Bettes stehen und schaut auf eine Stelle irgendwo über meinem Kopf. »Ich gehe besser zurück zu den anderen. Damit die Ärzte ihre Untersuchungen mit Vern machen. Vielleicht kann man irgendwas tun.«
Das sagt er, obwohl sie unseren Sohn nicht retten konnten. Sam verlässt den Raum, und ich schlage die Hände vors Gesicht. Ich habe auf die schlimmste Weise versagt, die es für eine
Frau gibt, und nun überträgt mein Mann seine Sorge auf das schwächste Mitglied der Familie, um seinen Kummer zu begraben. Meine Schwiegereltern kommen nicht zurück, selbst Vern bleibt fort. Das ist gängige Praxis, wenn eine Frau einen kostbaren Sohn verloren hat, dennoch schmerzt es mich.
May tut alles für mich. Sie sitzt bei mir, wenn ich weine. Sie hilft mir zur Toilette. Als meine Brüste schmerzhaft anschwellen und die Krankenschwester kommt, um die Milch abzupumpen und fortzuschütten, schiebt meine Schwester sie aus dem Zimmer und erledigt es selbst. Ihre
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