Toechter Aus Shanghai
ist drückender als sonst, besonders nachts. Feuchter Nebel kriecht vom Meer herauf und hängt über der Stadt wie eine vollgesogene Decke. Der Arzt sagt mir, die Wehen könnten jetzt jeden Tag einsetzen, aber vielleicht ist mein Kind vom Wetter eingelullt worden oder will nicht hinaus in eine derart graue, kalte Welt, wo es doch an seinem jetzigen Platz von Wärme umgeben ist. Ich mache mir keine Sorgen. Ich bleibe zu Hause und warte.
An diesem Abend sind nur Vern und Joy zu Hause. Vern fühlt sich in letzter Zeit nicht gut, er schläft in seinem Zimmer. Joy hat nur noch eine Woche in der fünften Klasse. Von meinem Platz am Esstisch sehe ich sie mit gerunzelter Stirn zusammengerollt auf dem Sofa liegen. Es macht ihr keinen Spaß, das Einmaleins zu üben oder die Teilungsaufgaben immer schneller zu bewältigen, die sie von ihrer Lehrerin zur Steigerung ihrer Geschwindigkeit und Genauigkeit bekommen hat.
Ich wende mich erneut der Zeitung zu. Heute habe ich sie immer wieder in die Hand genommen, konnte kaum glauben, was ich dort las. Ein Bürgerkrieg reißt mein Heimatland auseinander. Mao Tse-tungs Rote Armee hat China ebenso stetig und erbarmungslos
vor sich hergetrieben wie einst die Japaner. Im April übernahmen seine Truppen die Kontrolle über Nanking. Im Mai eroberte er Shanghai. Ich kann mich an die Revolutionäre in den Cafés erinnern, wo ich mit Z. G. und Betsy saß. Betsy war immer viel aufgebrachter als jene Männer, aber dass diese Leute an die Macht gelangen? Sam und ich haben viel darüber gesprochen. Seine Eltern waren Bauern. Sie hatten nichts. Würden sie noch leben, könnte es ihnen unter einem kommunistischen System nur besser gehen, während ich aus der bu-er-ch’iao-ya, der Bourgeoisie, stamme. Wenn meine Eltern noch lebten, ginge es ihnen nun schlecht. Hier, in Los Angeles, weiß niemand, was passieren wird, doch wir verbergen unsere Sorgen hinter aufgesetztem Lächeln, nichtssagenden Worten und einem unehrlichen Gesichtsausdruck für die Westler, die viel mehr Angst vor den Kommunisten haben als wir.
Ich gehe in die Küche, um Tee zu kochen. Ich stehe vor der Spüle und lasse den Teekessel volllaufen, als mir plötzlich etwas Nasses die Beine hinabläuft. Es ist so weit! Die Fruchtblase ist geplatzt. Lächelnd schaue ich nach unten, doch was an meinen Beinen hinunterläuft und sich auf dem Boden sammelt, ist nicht Wasser, sondern Blut. Die Furcht, die mich ergreift, nimmt ihren Ausgangspunkt irgendwo tief unten und wandert in mir hoch bis zu dem klopfenden Herzen in meiner Brust. Aber das ist nur ein kleiner Schauder verglichen mit dem, was danach passiert. Eine Wehe drängt sich von meinem Rücken zum Bauchnabel und drückt mit solcher Wucht nach unten, dass ich Angst habe, das Baby könne mit einem heftigen Schwall herausrutschen. Doch das geschieht nicht. Ich weiß nicht mal, ob das passieren könnte. Aber als ich unter meinen Bauch greife und mich aufrichte, strömt noch mehr Nasses an meinen Beinen hinunter. Ich drücke die Oberschenkel zusammen, schlurfe zur Küchentür und rufe meine Tochter.
»Joy, hol deine Tante!« Ich hoffe, dass May in ihrem Büro ist und nicht mit den Filmleuten unterwegs, die sie oft ausführt, um
die Geschäftsbeziehungen zu stärken. »Wenn sie nicht in ihrem Büro ist, läufst du zum Chinese Junk. Da geht sie manchmal mit Kunden essen.«
»Ach, Mom...«
»Los! Lauf los!«
Joy blickt mich an. Sie sieht nur meinen Kopf, der aus der Küche schaut. Dafür bin ich dankbar. Doch mein Gesicht muss etwas verraten, weil sie mir nicht zu widersprechen versucht, wie sonst immer. Kaum hat sie die Wohnung verlassen, nehme ich Geschirrtücher und presse sie mir zwischen die Beine. Ich lehne mich auf dem Stuhl zurück und umklammere die Armlehnen, damit ich nicht laut schreie, wenn die nächste Wehe kommt. Ich weiß, dass der Abstand zu kurz ist. Ich weiß, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt.
Als Joy mit May zurückkehrt, wirft meine Schwester einen Blick auf mich, packt sich meine Tochter, noch bevor sie etwas sehen kann, und zieht sie außer Sichtweite.
»Lauf ins Café! Hol deinen Vater! Sag ihm, er soll zu uns ins Krankenhaus kommen!«
Joy rennt los, und meine Schwester eilt an meine Seite. Weicher roter Lippenstift hat ihren Mund in eine wogende Seeanemone verwandelt. Ein Lidstrich vergrößert ihre Augen. Sie trägt ein schulterfreies Satinkleid in Immergrün, das ihren Körper so eng umhüllt wie ein cheongsam . Ihr Atem riecht nach Gin und Steak.
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