Toechter Aus Shanghai
Finger sind sanft, liebevoll, zärtlich. Ich vermisse meinen Mann; ich brauche meinen Mann. So wie Sam mich im Stich lässt, als ich ihn am meisten brauche, ist May nicht für Vern da. Am fünften Tag im Krankenhaus erzählt May mir endlich, was geschehen ist.
»Vern hat die Weiche-Knochen-Krankheit«, sagt sie. »Hier heißt sie Knochentuberkulose. Deshalb schrumpft er zusammen.« May hat immer nah am Wasser gebaut, doch jetzt weint sie nicht. Wie sehr sie darum kämpft, ihre Tränen zurückzuhalten, zeigt mir, wie groß ihre Liebe zu dem Kind-Mann mittlerweile ist.
»Was heißt das?«
»Dass wir schmutzig sind, dass wir wie Schweine leben.«
Die Stimme meiner Schwester ist so verbittert, wie ich es noch nie gehört habe. Wir sind in der Überzeugung aufgewachsen, dass die Weiche-Knochen-Krankheit und ihre Schwester, die Blut-Lungen-Krankheit, Zeichen von Armut und mangelnder Hygiene sind. Es sind die peinlichsten aller Krankheiten, schlimmer noch als jene, die von Prostituierten übertragen werden. Darunter zu leiden ist noch schlimmer, als einen Sohn zu verlieren, weil es eine sichtbare, öffentliche Botschaft an unsere Nachbarn ist - und an die lo fan -, dass wir arm, dreckig, unrein sind.
»Normalerweise trifft sie Kinder, die irgendwann sterben, wenn ihre Wirbelsäule zusammenfällt«, fährt May fort. »Aber Vern ist kein Kind, deshalb wissen die Ärzte nicht, wie lange er noch zu
leben hat. Sie wissen nur, dass die Schmerzen irgendwann aufhören und dann Taubheit, Schwäche und schließlich Lähmung einsetzen. Er wird den Rest seines Lebens bettlägerig sein.«
»Wie geht es Yen-yen? Vater?«
May schüttelt den Kopf, und jetzt kommen ihr doch die Tränen. »Er ist ihr kleiner Junge.«
»Und Joy?«
»Ich kümmere mich um sie.« Traurigkeit erfüllt die Stimme meiner Schwester. Ich verstehe nur zu gut, was es für sie bedeutet, dass ich das Kind verloren habe. Ich werde wieder Joys Vollzeitmutter werden. Vielleicht sollte ich darüber triumphieren, doch ich tue es nicht, denn ich bin zu sehr von unserem gemeinsamen Verlust erfüllt.
Später am Abend kommt Sam, um mit mir zu sprechen. Er steht am Fußende des Bettes und sieht anders aus. Seine Wangen sind grau, seine Schultern sind unter dem Gewicht zweier Tragödien eingefallen.
»Ich hatte schon länger vermutet, der Junge könnte krank sein. Ich kannte einige Symptome von meinem Vater. Mein Bruder wurde mit einem unguten Schicksal geboren. Er hat niemals jemandem etwas zuleide getan und war immer nett zu uns, und doch war an seinem Schicksal nichts zu ändern.«
Mit diesen Worten meint er Vern, aber er könnte über jeden von uns sprechen.
Diese beiden Tragödien schweißen uns als Familie auf eine Weise zusammen, wie wir es uns nie hätten vorstellen können. May, Sam und Vater gehen zurück an die Arbeit; Kummer und Verzweiflung hängen um ihren Hals wie Holzkragen. Yen-yen bleibt in der Wohnung und kümmert sich um Vern und mich. (Der Arzt ist absolut dagegen. »Vern wäre in einem Sanatorium oder einer anderen Einrichtung besser aufgehoben«, sagt er, doch wenn Chinesen schon auf der Straße schlecht behandelt werden, wo es jeder sehen kann, wie sollen wir Vern dann an einen Ort
hinter Mauern und verschlossenen Türen schicken?) Papierteilhaber springen in China City für uns ein. Aber das Schicksal ist noch nicht fertig mit uns.
Im August zerstört ein zweites Feuer China City fast vollständig. Ein paar Gebäude bleiben stehen, doch alle Golden-Unternehmen sind nur noch verkohlte Ruinen, lediglich drei Rikschas und Mays Kostüm- und Komparsenverleih überleben. Immer noch ist niemand versichert. Da in China Bürgerkrieg herrscht, kann Vater Louie wieder nicht zurück in sein Heimatland, um sein Antiquitätenlager aufzufüllen. Er könnte auch hier versuchen, Antiquitäten zu kaufen, aber durch den Weltkrieg ist alles zu teuer geworden, und viele Ersparnisse, die Vater Louie in China City hortete, sind zu Asche verbrannt.
Doch selbst wenn wir die Mittel hätten, um unsere Läden neu zu bestücken - Christine Sterling hat nicht die Absicht, China City neu aufzubauen. Überzeugt davon, das Feuer sei die Folge von Brandstiftung, beschließt sie, ihre romantischen Vorstellungen vom Orient nicht mehr in Los Angeles nachzubilden. Sie will überhaupt nicht mehr mit Chinesen in Verbindung gebracht werden, auch sollen wir ihrem mexikanischen Markt auf der Olvera Street keine Konkurrenz machen. Sie überzeugt die Stadt, den Häuserblock von
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