Toechter Aus Shanghai
Schirme auf. Sam und Fred helfen den anderen Männern, eine Vertiefung für den Grill zu graben. May, Mariko und ich stellen zusammen mit den anderen Frauen und Müttern Schüsseln mit Kartoffel-, Bohnen- und Obstsalat bereit, dazu Wackelpuddingformen mit Marshmallows, Walnüssen und geriebenen Möhren sowie Platten mit Aufschnitt. Sobald das Feuer brennt, geben wir den Männern Tabletts mit Hühnerflügeln, mariniert in Honig, Sojasauce und Sesamsamen, außerdem Schweinerippchen in Hoisinsauce und fünf Gewürzen. Die Meeresluft vermischt sich mit dem Geruch des bratenden Fleisches, die Kinder spielen in der Brandung, die Männer beugen sich über den Grill, die Frauen sitzen auf Decken und tratschen. Mariko steht ein wenig abseits. Sie hat ihre kleine Tochter Mamie auf der Hüfte und behält ihre anderen beiden Halb-halb-Töchter, Eleanor und Bess, die eine Sandburg bauen, im Blick.
Meine kinderlose Schwester ist für alle Tante May. Wie Sam glaubt sie nicht an den einen Gott. Im Gegenteil! Sie arbeitet hart, bleibt manchmal lange auf, um Komparsen für einen Dreh zu organisieren, oder verbringt selbst die ganze Nacht am Set. Das behauptet sie jedenfalls. Ich weiß wirklich nicht, wo sie hingeht,
ich frage sie auch nicht. Selbst wenn sie zu Hause ist und schläft, klingelt manchmal um vier oder fünf Uhr morgens das Telefon, und es ruft jemand an, der gerade sein ganzes Geld beim Glücksspiel verloren hat und dringend Arbeit braucht. Nichts davon, wirklich gar nichts, verträgt sich mit meinem Glauben an den einen Gott, was einer der Gründe ist, warum ich May gerne zu diesen Ausflügen ans Meer mitnehme.
»Guck dir die FVS an«, sagt May und rückt ihre dunkle Brille und den Sonnenhut zurecht. Sie neigt den Kopf vorsichtig in Richtung von Violet Lee. Viele Frauen hier kommen wie Violet »frisch vom Schiff«. Inzwischen bestehen fast vierzig Prozent der chinesischen Bevölkerung in Los Angeles aus Frauen, doch Violet ist keine Kriegsbraut oder -verlobte. Sie und ihr Mann kamen zum Studium an die UCLA: sie Biotechnik, er Ingenieurswesen. Als China die Grenzen schloss, saßen sie hier mit ihrem Sohn fest. Die beiden sind weder Papiersöhne, Papierteilhaber noch Hilfsarbeiter, dennoch sind sie wang k’uo nu - Sklaven ohne Land.
Violet und ich verstehen uns gut. Sie hat schmale Hüften, was nach Mamas Meinung eine Frau mit einem flotten Mundwerk ausmachte. Ob sie meine beste Freundin ist? Ich werfe meiner Schwester einen verstohlenen Blick zu. Niemals. Violet und ich sind gute Freundinnen, so wie damals Betsy und ich. Aber May wird immer nicht nur meine Schwester und Schwägerin sein, sondern auch für alle Zeit meine beste Freundin. Allerdings weiß May nicht, was sie da sagt. Es stimmt zwar, dass viele neue Frauen wirken wie FVS - so wie wir damals selbst -, doch viele von ihnen sind genau wie Violet: gebildet, mit eigenem Geld in dieses Land gekommen, müssen sie keine einzige Nacht in Chinatown verbringen, sondern kaufen Bungalows oder Häuser in Silver Lake, Echo Park oder Highland Park, wo Chinesen willkommen sind. Sie wohnen nicht in Chinatown, und sie arbeiten auch nicht dort. Sie sind keine Wäscher, Hotelpagen, Küchenhilfen oder Souvenirverkäufer. Sie sind die Elite Chinas - sie konnten
es sich leisten zu gehen. Sie haben es schon weiter gebracht, als wir es je schaffen werden. Violet unterrichtet inzwischen an der USC, und Rowland arbeitet in der Raumfahrtindustrie. Nach Chinatown kommen sie nur, um die Kirche zu besuchen oder Lebensmittel zu kaufen. Unserer Gruppe haben sie sich angeschlossen, damit ihr Sohn andere chinesische Kinder kennenlernt.
May taxiert den kleinen Mann. »Meinst du, der FVS interessiert sich für unser ACM?«, fragt sie argwöhnisch. Mit FVS meint sie Violets Sohn, ACM ist mein amerikanisch-chinesisches Mädchen.
Violet schirmt die Augen mit ihren langen, schmalen Fingern ab und schaut hinaus aufs Meer, wo Joy und ihre Freundinnen Händchen haltend über die Wellen springen.
»Leon ist ein lieber Junge und ein guter Schüler«, sage ich und beobachte, wie der Kleine wendig in die Brandung taucht. »In seiner Schulklasse ist er der Beste, genau wie Joy in ihrer.«
»Du hörst dich an wie Mama, wenn sie von Tommy und mir sprach«, zieht May mich auf.
»Es ist doch nicht schlecht, wenn Leon und Joy sich kennenlernen«, erwidere ich ruhig, diesmal nicht beleidigt, weil sie mich mit unserer Mutter verglichen hat. Schließlich ist es Sinn und Zweck unserer Gruppe, dass sich die
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