Toechter Aus Shanghai
seine Erinnerung, seine Kraft und die Verbindung zu den Dingen verliert, die ihn angetrieben haben: Geld, Geschäft und Familie.
Joy macht eine halbe Verbeugung vor ihrem Großvater, dann nehmen wir beide am Gottesdienst in die Methodistenkirche teil. Nach der Predigt gehe ich mit Joy zur Central Plaza in New Chinatown, um mich dort mit Sam, May, Onkel Fred, Mariko und ihren Töchtern in einem der Versammlungsräume zu treffen. Wir haben uns einer Gruppe angeschlossen - einer Art Verein -, die aus Mitgliedern der kongregationalistischen, der presbyterianischen und der methodistischen Kirche in Chinatown besteht. Wir treffen uns einmal im Monat. Aufrecht und stolz stehen wir da, die Hand auf dem Herz, und sprechen den Fahneneid. Dann marschieren alle Familien hinaus auf die Bamboo Lane, quetschen sich in Limousinen und fahren an den Strand von Santa Monica. Sam, May und ich sitzen zusammen auf dem Vordersitz unseres Chryslers. Auf dem Rücksitz hocken Joy und die beiden Töchter der Yees, Hazel und ihre jüngere Schwester Rose, und dann geht es in der Kolonne über den Sunset Boulevard gen Westen. Autos mit gewaltigen Heckflossen schießen an uns vorbei, die Windschutzscheiben blitzen in der grellen Sommersonne. Wir fahren an altmodischen, holzverkleideten Häusern in Echo Park vorbei, an rosa Stuckvillen und Palmen mit Rattenschutz in Beverley Hills, weiter zum Wilshire Boulevard und in Richtung Westen, wo wir an Supermärkten vorbeikommen, die so riesig sind wie Flugzeughangars, an Parkplätzen und Rasenflächen groß wie Fußballfelder, an Kaskaden von Bougainvillea und Prunkwinde.
Joy versucht mit erhobener Stimme Hazel und Rose von etwas zu überzeugen, und ich schmunzele in mich hinein. Alle sagen, meine Tochter habe ihre sprachliche Begabung von mir. Mit ihren vierzehn Jahren kann sie die Dialekte Sze Yup und Wu so gut wie Englisch, und die chinesische Schrift beherrscht sie ebenfalls hervorragend. Bei jedem chinesischen Neujahrsfest und wann immer jemand einen frohen Anlass feiert, wird Joy gebeten, entsprechende Zweizeiler in ihrer schönen Schrift zu verfassen, von der alle sagen, sie sei tong gee - unverdorben kindlich. Dieses Lob reicht mir nicht. Ich weiß, dass Joy weiter innerlich wachsen und mehr über die Weißen lernen kann, wenn sie außerhalb von Chinatown zur Kirche geht, wie wir es einmal im Monat tun.
»Gott liebt jeden«, erinnere ich meine Tochter oft. »Er möchte, dass wir ein gutes, glückliches Leben haben. Und das gilt auch für Amerika. In den Vereinigten Staaten kann man alles tun. Das kann man über China nicht behaupten.«
So rede ich auch mit Sam, denn die christlichen Worte und Überzeugungen haben tief in mir Wurzel gefasst. Mein Glaube an Gott und Jesus gründet zum großen Teil auf dem Patriotismus und der Loyalität, die ich für Amerika, das Heimatland meiner Tochter, empfinde. Und natürlich ist das Christsein jetzt eng mit einer antikommunistischen Gesinnung verbunden. Niemand will sich vorwerfen lassen, ein gottloser Kommunist zu sein. Wenn wir zum Koreakrieg befragt werden, antworten wir, wir seien gegen die Einmischung von Rotchina; werden wir nach Taiwan gefragt, sagen wir, wir würden den Generalissimus und Madame Chiang Kai-shek unterstützen. Wir sagen, wir seien für die moralische Aufrüstung, für Jesus und die Freiheit. In eine westliche Kirche zu gehen ist nützlich für mich, so wie damals der Besuch der Mission in Shanghai. »Man muss vernünftig mit diesen Dingen umgehen«, habe ich zu Sam gesagt, doch innerlich glaube ich längst nur noch an einen Gott, und Sam weiß das auch.
Sam mag das zwar nicht gefallen, doch er begleitet uns zu den
Kirchenveranstaltungen, weil er mich, unsere Familie, Onkel Fred mit seiner Mädchenschar und das Picknick liebt. Bei unseren Ausflügen fühlt er sich amerikanisch. Auch wenn unsere Tochter ihren Cowgirl-Virus endlich überstanden hat, fühlen wir uns bei fast allem, was wir tun, amerikanischer. An Tagen wie diesem sieht Sam über die Sache mit Gott hinweg und genießt das, was er mag: das Picknick vorbereiten, Wassermelonen essen, bei denen man keine Angst haben muss, dass schlechtes Flusswasser in sie gespritzt wurde, die familiäre Verbundenheit feiern. Für ihn sind diese Abenteuer einfach nur gesellig und dienen der Belustigung der Kinder.
Am Pier von Santa Monica biegt Sam in eine Parklücke, und wir laden alles aus dem Wagen. Mit brennenden Füßen überqueren wir den Sand, rollen unsere Decken aus, stellen
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