Toechter Aus Shanghai
das Grundstück zusammen mit dem Rest der Familie, aber ich bin die älteste Frau im Haus. Die Küche ist mein Reich, und dieser Raum birgt buchstäblich meinen gesamten Reichtum. Unter der Spüle stehen jetzt zwei Kaffeedosen: eine für Speckfett und die andere mit Sams und meinen Ersparnissen, damit Joy aufs College gehen kann. Der Tisch ist mit Wachstuch bedeckt, und eine Thermoskanne mit heißem Wasser steht zum Teeaufgießen bereit. Auf dem Herd wartet ein Wok, in einem Topf auf einer der hinteren Flammen brodeln kräftigende Kräuter für Vern. Ich mache das Frühstückstablett fertig und trage es durch das Wohnzimmer und den Flur.
Verns Zimmer gehört einem Mann, der für alle Zeit ein Kind sein wird. Einzig der Schrank mit Mays Kleidung erinnert daran, dass Vern verheiratet ist. Seinen Raum zieren all die Modellbausätze, die er zusammengeklebt und bemalt hat. Kampfflieger hängen an Angelschnüren unter der Decke. Schiffe, U-Boote und Rennwagen stehen in raumhohen Regalen.
Vern ist wach, er lauscht einem Radiokommentar über den Krieg in Nordkorea und die kommunistische Gefahr und arbeitet dabei an einem seiner Modelle. Ich stelle das Tablett ab, ziehe die Bambusjalousien hoch und öffne das Fenster, damit ihm der Klebstoff nicht zu sehr in den Kopf steigt.
»Brauchst du sonst noch irgendwas?«
Lieb lächelt er mich an. Nach drei Jahren Weiche-Knochen-Krankheit sieht er wie ein kleiner Junge aus, der einen Tag zu Hause bleiben darf und nicht zur Schule gehen muss, weil er krank ist. »Farben und Pinsel?«
Ich stelle sie ihm in Reichweite. »Dein Vater bleibt heute bei dir. Wenn du irgendwas brauchst, ruf ihn einfach, dann kommt er.«
Ich will mir keine Gedanken darüber machen, dass etwas passieren könnte, wenn wir die beiden allein lassen, denn ich weiß ganz genau, wie ihr Tag aussehen wird: Vern wird an seinem Modell arbeiten, ein einfaches Mittagessen zu sich nehmen, in die
Hose machen und weiter an seinem Modell arbeiten. Vater Louie wird leichte Arbeiten im Haus verrichten, jenes einfache Mittagessen zubereiten, die schmutzige Hose seines Sohnes ignorieren und stattdessen zur Straßenecke gehen und seine Zeitungen kaufen. Dann wird er bis zu unserer Heimkehr dösen.
Ich winke Vern zu und gehe ins Wohnzimmer, wo Sam sich um den Familienaltar kümmert. Er verbeugt sich vor dem Foto von Yen-yen. Da wir nicht von allen, die uns verlassen haben, Bilder besitzen, hat er ein Beutelchen von Mama und eine kleine Rikscha für Baba auf den Altar gestellt. In einem kleinen Kästchen ist eine Locke meines Sohnes. Seine eigene Familie ehrt Sam mit Keramikfrüchten im einfachen Bauernstil.
Dieses Zimmer ist mir ans Herz gewachsen. Ich habe Familienfotos eingerahmt und über der Couch aufgehängt. Seit wir hier wohnen, haben wir jeden Winter einen mit künstlichen Schneeflocken bedeckten Weihnachtsbaum in der Ecke aufgestellt und ihn mit roten Kugeln geschmückt. Wir reihen Lichter im Fenster auf, sodass der ganze Raum vor Freude über die Geburt Jesu glüht. In kalten Nächten stellen May, Joy und ich uns abwechselnd über das Heizungsgitter, bis unsere Flanellnachthemden sich zu Ballons aufbauschen, als seien wir Schneewesen.
Ich sehe zu, wie Joy ihrem Großvater zu seinem Liegesessel hilft und ihm Tee serviert. Ich bin stolz, dass sie so ein anständiges chinesisches Mädchen ist. Sie fügt sich ihrem Großvater, dem Familienältesten, der über allen steht, auch über ihrem Vater und mir. Sie versteht, dass alles, was sie tut, nicht nur die Sache ihres Großvaters ist, sondern er auch die Entscheidungsgewalt darüber hat. Er möchte, dass sie Sticken, Nähen, Putzen und Kochen lernt. Nach der Schule übernimmt sie im Souvenirgeschäft viele der Aufgaben, die ich früher erledigt habe: Polieren, Fegen, Staubwischen. »Ihre Ausbildung zu einer künftigen Ehefrau und Mutter meines Großenkels ist sehr wichtig«, sagt Vater Louie, und wir versuchen alle, das zu respektieren. Obwohl es keine Hoffnung mehr gibt, je nach China zurückzukehren,
sagt er immer noch: »Wir möchten nicht, dass Pan-di zu amerikanisch wird. Wir gehen alle eines Tages nach China zurück.« Solche Äußerungen verraten uns, dass er uns entgleitet. Es ist schwer zu glauben, dass er früher mit solcher Autorität über uns herrschte und wir alle so viel Angst vor ihm hatten. Wir nannten ihn stets den »Alten Herrn«, aber jetzt ist er ein wirklich alter Mann, der immer schwächer wird und sich langsam von uns entfernt, der nach und nach
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