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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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einem von uns eine Reise bevorstünde). Dann stelle ich das
Essen auf den Tisch, und Joy holt ihre Tante, ihren Vater und Großvater herbei. Ich habe versucht, meiner Tochter das beizubringen, was meine Mutter mich lehrte. Der große Unterschied ist, dass meine Tochter zugehört und gelernt hat. Sie spricht nie beim Essen - darin haben May und ich elendig versagt. Joy lässt ihre Essstäbchen nie vor Schreck oder aus Versehen fallen, ebenso wenig stellt sie sie aufrecht in ihre Reisschüssel, weil man das nur bei Beerdigungen macht und es unhöflich gegenüber ihrem Großvater wäre, der in letzter Zeit über seine eigene Sterblichkeit nachdenkt.
    Als das Essen vorbei ist, hilft Sam Vater wieder in den Sessel. Ich mache die Küche sauber, während May Vern einen Teller bringt. Ich stehe da, die Hände im Seifenwasser, und blicke nach draußen in den Garten, der im letzten Licht des Sommerabends leuchtet, als ich höre, wie meine Schwester durchs Wohnzimmer zurückkommt. Ihre Schritte klingen vertraut und tröstlich. Dann höre ich, wie sie nach Luft schnappt - ein so tiefer, scharfer Atemzug, dass ich sofort große Angst bekomme. Ist es Vern? Vater? Joy? Sam?
    Ich haste zur Küchentür und spähe um den Pfosten. May steht in der Mitte des Zimmers, Verns leeren Teller in der Hand. Sie hat ein rotes Gesicht und einen Blick, den ich nicht deuten kann. May blickt auf Vater im Sessel, und ich nehme an, dass der alte Mann gestorben ist. Falls der Tod heute gekommen ist, wäre es gar nicht so schlimm. Vater wurde über achtzig Jahre alt, verbrachte einen ruhigen Tag mit seinem Sohn und aß mit der ganzen Familie. Niemand braucht mehr ein schlechtes Gewissen wegen unserer Beziehungen untereinander zu haben.
    Ich gehe ins Wohnzimmer, um mich dieser traurigen Nachricht zu stellen, und erstarre stattdessen, ebenso schockiert wie meine Schwester. Der alte Mann ist quicklebendig. Er sitzt da, die Beine auf dem Fußteil, die lange Pfeife im Mund, und hält eine Ausgabe von China Reconstructs in den Händen. Es ist schon erschreckend genug, ihn mit dieser Zeitschrift zu sehen. Sie kommt
aus Rotchina und macht kommunistische Propaganda. Es gab Gerüchte, in Chinatown seien Spione der Regierung unterwegs, die genau aufpassen, wer diese Zeitschrift kauft. Vater Louie, dem man beim besten Willen keine Unterstützung des kommunistischen Regimes nachsagen kann, hat uns geraten, den Tabakladen und den Papierwarenladen zu meiden, wo die Zeitschrift unter der Ladentheke verkauft wird.
    Doch nicht diese Zeitschrift ist der wahre Schock, sondern das Titelblatt, das mein Schwiegervater uns mit solchem Stolz präsentiert. Diese Art von Bild ist uns vertraut, auch wenn wir solche Presseerzeugnisse meiden: die Pracht des neuen China, versinnbildlicht durch zwei junge Frauen in Bauernkleidung, die Gesichter voller Leben, die Arme voller Obst und Gemüse, so preisen sie die Herrlichkeit des neuen Regimes - alles in leuchtenden Rottönen. Die beiden schönen Mädchen sind unverkennbar May und ich. Den Maler, der zweifellos den von den Kommunisten bevorzugten übertriebenen Stil umgesetzt hat, identifizieren wir ebenso schnell an der Feinheit und Genauigkeit seiner Pinselstriche: Z. G. lebt noch, und er hat meine Schwester und mich nicht vergessen.
    »Ich bin zum Tabakladen gegangen, als Vern geschlafen hat. Schaut mal«, sagt Vater Louie mit unverkennbarem Stolz und betrachtet das Titelbild mit May und mir - es besteht kein Zweifel, dass wir es sind. Wir werben nicht für Seife, Puder oder Babynahrung, sondern für eine großartige Ernte draußen bei der Lunghua-Pagode, wo Z. G., May und ich einst Drachen steigen ließen. »Ihr seid immer noch Kalendermädchen.« Vater frohlockt beinahe. Er hat sein ganzes Leben gearbeitet, und wofür? Er konnte nicht nach China zurückkehren. Seine Frau ist gestorben. Sein leiblicher Sohn gleicht einer vertrockneten Wanze und ist auch ungefähr so gesellig. Er hat keinen Enkelsohn bekommen. Seine Unternehmen sind zu einem mittelmäßigen Souvenirladen zusammengeschrumpft. Doch eines hat er wirklich sehr gut gemacht: Er hat zwei hübsche Mädchen für Vern und Sam besorgt.
    Zögernd treten May und ich auf ihn zu. Es ist schwer zu sagen, wie ich mich fühle: überrascht und verblüfft, dass May und ich mit unseren rosigen Wangen, dem fröhlichen Blick und strahlenden Lächeln noch genauso aussehen wie vor fünfzehn Jahren; gleichzeitig ein wenig ängstlich, dass diese Zeitschrift in unserem Haus ist, und fast außer

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