Toechter Aus Shanghai
von uns leben jetzt noch im Haus, und die Stille ist besonders im ersten Monat so unerträglich, dass May sich einen brandneuen Ford Thunderbird in Rosa zulegt und Sam und ich uns ein Fernsehgerät kaufen. May kommt nach der Arbeit nach Hause, isst schnell zu Abend, sagt Vern Gute Nacht und verschwindet wieder. In Erinnerung an Joys Liebe zu Cowgirls in ihrer Kindheit sitzt der Rest von uns im großen Zimmer und sieht sich Rauchende Colts oder Cheyenne an.
»Liebe Mom, lieber Dad, liebe Tante May, lieber Onkel Vern«, lese ich laut vor. Wir sitzen auf Stühlen um Verns Bett. »Ihr habt mir geschrieben und mich gefragt, ob ich Heimweh hätte. Wie soll ich auf diese Frage antworten, ohne euch wehzutun? Wenn ich euch sage, dass es mir Spaß macht hier, verletze ich eure Gefühle. Wenn ich schreibe, dass ich mich einsam fühle, macht ihr euch Sorgen um mich.«
Ich schaue die anderen an. Sam und May nicken zustimmend. Vern dreht die Bettdecke zwischen den Fingern. Er versteht nicht so recht, dass Joy nicht mehr da ist, so wie er auch nicht richtig begriffen hat, dass seine Eltern fort sind.
»Aber ich glaube, Dad möchte, dass ich die Wahrheit sage«, lese ich weiter. »Ich bin hier sehr glücklich und habe viel Spaß. Der Unterricht ist interessant. Ich schreibe einen Aufsatz über einen chinesischen Schriftsteller namens Lu Hsün. Wahrscheinlich habt ihr noch nie von ihm gehört...«
»Ha!«, ruft meine Schwester. »Wir könnten ihr Geschichten erzählen! Weißt du noch, was er über die Kalendermädchen aus Shanghai geschrieben hat?«
»Lies weiter, lies weiter!«, drängt Sam.
Joy kommt zu Weihnachten nicht nach Hause. Wir machen uns nicht die Mühe, einen großen Weihnachtsbaum aufzustellen. Sam kauft einen kleinen, höchstens einen halben Meter hohen Baum, den wir auf Verns Kommode platzieren.
Ende Januar weicht Joys anfängliche Begeisterung dem Heimweh:
Wie kann man freiwillig in Chicago leben? Hier ist es so kalt. Die Sonne kommt nie heraus, immer ist es windig. Danke für die lange Unterwäsche aus dem Armeeladen, doch selbst damit wird mir nicht warm. Alles hier ist weiß - der Himmel, die Sonne, die Gesichter der Menschen -, und die Tage sind so kurz hier oben. Ich weiß nicht, was mir mehr fehlt - an den Strand zu gehen oder mit Tante May bei Dreharbeiten zu sein. Mir fehlt sogar das Schweinefleisch süß-sauer, das Dad immer im Café macht.
Der letzte Satz ist ein Schlag ins Gesicht. Schweinefleisch süßsauer ist das schlimmste lo fan- Gericht: viel zu süß und zu stark paniert. Im Februar schreibt sie:
Ich hatte gehofft, in den Frühjahrsferien einen Job bei einem meiner Professoren zu bekommen. Wie kann es sein, dass keiner von ihnen Arbeit für mich hat? Im Geschichtskurs
sitze ich in der ersten Reihe, aber der Professor gibt die Durchschläge immer zuerst allen anderen. Wenn er dann keine mehr hat, habe ich Pech gehabt.
Ich schreibe zurück:
Man wird Dir immer sagen, Du könntest dies oder das nicht tun, aber vergiss nicht, dass Du alles machen kannst, was Du willst. Geh immer schön in die Kirche. Da nimmt man Dich mit offenen Armen auf, und Du kannst über die Bibel reden. Es ist gut, wenn die Leute wissen, dass Du Christin bist.
Ihre Antwort lautet:
Die Leute fragen mich immer, warum ich nicht nach China zurückgehe. Ich antworte dann, ich könnte nicht an einen Ort gehen, wo ich noch nie war.
Im März wird Joy plötzlich fröhlicher. »Vielleicht weil der Winter vorbei ist«, meint Sam. Aber daran liegt es nicht, denn sie beschwert sich weiter über die endlose Kälte. Nein, es gibt einen Jungen …
Mein Freund Joe hat mich in den chinesischen christlich-demokratischen Studentenverband eingeladen. Ich mag die Jugendlichen in der Gruppe. Wir diskutieren über Integration, Mischehen und Familienbeziehungen. Ich lerne sehr viel, und es macht Spaß, freundliche Gesichter zu sehen, zusammen zu kochen und zu essen.
Abgesehen von diesem Joe, wer auch immer er ist, freue ich mich, dass Joy sich einer christlichen Verbindung angeschlossen hat. Ich weiß, dass sie dort Gesellschaft findet. Nachdem ich den Brief vorgelesen habe, schreibe ich unsere Antwort:
Dein Dad möchte wissen, welche Fächer Du in diesem Semester belegst. Kannst Du Schritt halten? Tante May fragt, was die Mädchen in Chicago tragen und ob sie Dir etwas schicken soll. Ich habe nicht viel hinzuzufügen. Alles ist so wie immer oder wenigstens fast so. Wir haben den Souvenirladen geschlossen - nicht genug Arbeit,
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