Toechter Aus Shanghai
nicht zur Kirche oder zum Chinesischunterricht gehen. Und man muss auch nicht ständig immer nur gehorchen, wie du und Dad mir dauernd sagen.«
»Das mag ja so sein«, gebe ich zurück, »aber in China müssen alle dem Vorsitzenden Mao gehorchen. Was ist daran anders, als dem Kaiser oder den Eltern zu gehorchen?«
»In China gibt es keinen Mangel. Jeder hat genug zu essen.« Ihre Aussage ist keine Antwort, nur ein weiterer Slogan, den sie in einem ihrer Kurse oder bei diesem Joe aufgeschnappt hat.
»Selbst wenn jeder zu essen hat - was ist mit der Freiheit?«
»Mao glaubt an die Freiheit. Hast du noch nicht von seiner neuen Kampagne gehört? Er hat gesagt: ›Lasst hundert Blumen blühen.‹ Weißt du, was das bedeutet?« Sie wartet meine Antwort gar nicht ab. »Er fordert die Menschen auf, die neue Gesellschaft zu kritisieren...«
»Das wird kein gutes Ende nehmen.«
»Ach, Mom, du bist so...« Joy schaut mich nachdenklich an. Dann sagt sie: »Du läufst immer der Masse nach. Du bist für Chiang Kai-shek, weil die Leute in Chinatown ihn unterstützen. Und die tun das, weil sie glauben, sie müssten es. Jeder weiß, dass er nicht besser als ein Dieb ist. Bei seiner Flucht aus China hat er Geld und Kunstgegenstände mitgehen lassen. Sieh dir doch an, wie er und seine Frau jetzt leben! Warum unterstützt Amerika
die Kuomintang und Taiwan? Wäre es nicht viel besser, enge Beziehungen zu China aufzubauen? China ist ein viel größeres Land mit viel mehr Menschen und Ressourcen. Joe sagt, es ist besser, mit Menschen zu reden, als sie zu ignorieren.«
»Joe, Joe, Joe«, seufze ich, des Themas überdrüssig. »Wir kennen diesen Joe nicht einmal, und du hörst dir an, was er über China erzählt? War er überhaupt schon mal da?«
»Nein«, gibt Joy widerwillig zu, »aber er möchte hin. Ich möchte auch irgendwann mal hin und mir ansehen, wo du und Tante May in Shanghai gelebt habt, und euer Heimatdorf besuchen.«
»Aufs chinesische Festland? Eins sage ich dir: Es ist nicht einfach für eine Schlange, zurück in die Hölle zu kriechen, wenn sie einmal im Himmel war. Und du bist keine Schlange. Du bist nur ein Mädchen, das keine Ahnung davon hat.«
»Ich habe gelernt...«
»Vergiss dein Schulwissen! Vergiss, was irgendein Junge dir erzählt. Geh nach draußen und sieh dich um. Hast du die neuen Fremden in Chinatown noch nicht bemerkt?«
»Hier wird es immer neue lo fan geben«, sagt Joy abweisend. »Das sind nicht die üblichen lo fan . Das sind FBI-Agenten.« Ich erzähle ihr von einem, der seit Kurzem jeden Tag durch Chinatown läuft und Fragen stellt. Er dreht eine Runde, die an der International Grocery in der Spring Street beginnt, kommt an Pearl’s Café auf der Ord vorbei und geht über den Broadway zur Central Plaza nach New Chinatown, wo er das Restaurant von General Lee besucht. Von da geht er weiter zu Jack Lees Lebensmittelgeschäft auf der Hill, dann rüber zu den neuesten Ecken von New Chinatown auf der anderen Seite, besucht die Läden der Sees und der Fongs, und zum Schluss kommt er zurück in die Innenstadt.
»Was wollen die denn hier? Der Koreakrieg ist vorbei...«
»Aber die Angst der Regierung vor Rotchina ist nicht verschwunden. Es ist schlimmer als je zuvor. Haben sie dir auf dem
College nichts von der Dominotheorie erzählt? Erst wird ein Land kommunistisch, dann fällt das nächste um, und immer so weiter. Diese lo fan haben Angst. Wenn sie Angst haben, tun sie Menschen wie uns Böses an. Deshalb müssen wir den Generalissimus unterstützen.«
»Du machst dir zu viele Sorgen.«
»Das habe ich damals auch zu meiner Mutter gesagt, aber sie hatte recht, und ich hatte unrecht. Es geschehen bereits schlimme Dinge. Du weißt bloß nichts davon, weil du fort warst.« Ich seufze erneut. Wie kann ich es ihr nur beibringen? »Während du weg warst, hat die Regierung mit einer Maßnahme begonnen, die ›Confession Program‹ heißt. Sie läuft im ganzen Land, bestimmt auch bei dir in Chicago. Wir werden aufgefordert, nein, wir werden eingeschüchtert, damit wir gestehen, wer als Papiersohn herkam. Wenn man seinen Freund, seinen Nachbarn, seinen Geschäftspartner oder sogar einen Angehörigen anschwärzt, dass er als Papiersohn hergekommen ist, bekommt man die amerikanische Staatsbürgerschaft. Die Regierung spricht vom Domino-Effekt. Tja, wenn man hier in Chinatown einen Namen nennt, gibt es auch einen Domino-Effekt, allerdings betrifft der nicht nur ein Familienmitglied, sondern alle
Weitere Kostenlose Bücher