Toechter Aus Shanghai
sind.«
Ich falte den Brief zusammen und stecke ihn in den Umschlag zurück. Aus der Ferne können wir nichts tun, aber ich beginne zu beten - es ist mehr als ein Gebet, eher ein verzweifeltes Flehen: Mach, dass sie zurückkommt! Mach, dass sie zurückkommt!
DOMINO
Der Sommer kommt, und Joy verbringt die Semesterferien bei uns. Wir genießen die sanfte Musik ihrer Stimme. Wir versuchen uns zusammenzureißen und sie nicht ständig zu berühren, doch wir tätscheln ihr die Hand, fahren ihr übers Haar und streichen ihren Kragen glatt. Ihre Tante schenkt ihr signierte Filmzeitschriften, bunte Stirnbänder und ein Paar violetter Pantoffeln aus Straußenleder. Ich bereite Joys Lieblingsgerichte zu: gedämpftes Schweinefleisch mit gesalzenen Enteneiern, lo mein mit Rindfleisch, Tomaten und Curry, Hühnerflügel mit schwarzen Bohnen und zum Nachtisch Mandeltofu mit Obstsalat aus der Dose. Jeden Tag bringt Sam seiner Tochter etwas Besonderes mit: gegrillte Ente aus der Metzgerei Sam Sing, Kuchen mit Schlagsahne und frischen Erdbeeren von der Bäckerei Phoenix oder Schweinefleisch bao von dem kleinen Laden auf der Spring Street, den sie so gerne mag.
Doch wie sich Joy in den letzten neun Monaten verändert hat! Sie trägt dreiviertellange Hosen und ärmellose Baumwollblusen, die ihr in der schmalen Taille zwicken. Sie hat sich das Haar zu einer Kurzhaarfrisur schneiden lassen. Auch innerlich hat sie sich verändert. Damit meine ich nicht, dass sie uns provoziert oder beleidigt, so wie sie es in den letzten Monaten vor ihrer Abreise nach Chicago tat. Nein, sie ist mit der Überzeugung zurückgekehrt, dass sie von vielen Dingen mehr versteht als wir, beispielsweise vom Reisen (sie ist mit dem Zug nach Chicago und zurück gefahren, während von uns bisher niemand einen Zug benutzt hat), von Finanzen (sie hat ihr eigenes Konto und ein Scheckbuch, während Sam und ich unser Geld immer noch zu
Hause verstecken, wo die Regierung - oder wer auch immer - es nicht in die Finger bekommt) und vor allem von China. Ach, was dürfen wir uns für Vorträge anhören!
Ihr erstes Opfer ist der Schwächste von uns, ihr Onkel. Wenn das Tierkreiszeichen des Schweins mit seinem unschuldigen Charakter einen Fehler hat, so den, dass es jedem vertraut und fast alles glaubt, was ihm erzählt wird, selbst von Fremden, selbst von Lügnern, selbst von einer Stimme im Radio. Die jahrelangen antikommunistischen Sendungen haben Verns Meinung von der Volksrepublik China ihren Stempel aufgedrückt. Was ist er schon für ein Gesprächspartner? Kein sehr guter. Wenn Joy verkündet: »Mao hat den Menschen in China geholfen«, erwidert ihr Onkel: »Da gibt’s keine Freiheit.«
»Mao will, dass Bauern und Arbeiter genau dieselben Chancen haben, die Mom und Dad für mich wollen.« Joy bleibt hartnäckig. »Zum ersten Mal lässt er die Leute vom Land aufs College und zur Universität gehen. Und nicht nur die Jungen. Er sagt, Frauen sollen ›gleichen Lohn für gleiche Arbeit‹ bekommen.«
»Du bist nie da gewesen«, sagt Vern. »Du weißt nichts darüber …«
»Ich weiß ganz viel über China. Ich war als kleines Mädchen in ganz vielen China-Filmen.«
»China ist nicht wie im Film«, sagt ihr Vater, der sich normalerweise aus diesen Diskussionen heraushält. Joy widerspricht ihm nicht. Nicht weil er sie auf diese Weise wie ein anständiger chinesischer Vater zurechtweisen will oder weil sie eine gehorsame chinesische Tochter wäre. Nein, sie ist wie eine Perle auf seiner Handfläche - unendlich kostbar -, und für Joy ist ihr Vater der feste Boden, auf dem sie geht - unendlich stabil und verlässlich.
May nutzt die kurze Gesprächspause aus, um Joys Gedankengänge zu unterbrechen. »China ist nicht wie ein Filmset. Man kann es nicht einfach verlassen, wenn die Kamera nicht mehr läuft.«
Das ist einer der schroffsten Sätze, den ich je von meiner Schwester gegenüber Joy gehört habe, doch dieser höchst zurückhaltende Tadel wirkt wie eine Nessel im Herz meiner Tochter. Sie nimmt May und mich ins Visier - zwei Schwestern, die nie voneinander getrennt waren, die die engsten Freundinnen und tiefer miteinander verbunden sind, als Joy es sich jemals vorstellen kann.
»In China tragen die Mädchen nicht solche Kleider, wie du und Tante May es von mir verlangt«, sagt Joy einige Tage später zu mir, als ich auf der Veranda Hemden bügle. »Man kann im Kleid nicht Traktor fahren, verstehst du? Die Mädchen müssen auch nicht Sticken lernen. Sie müssen
Weitere Kostenlose Bücher