Toechter Aus Shanghai
Bett ist voller Bilder von Elvis und dem im letzten Jahr verunglückten James Dean, die sie aus Zeitschriften geschnitten hat.
»Mom«, sagt Joy, nachdem ich ihr einen Kuss gegeben habe. »Ich habe nachgedacht.«
Inzwischen habe ich gelernt, mich vor diesem Gesprächsauftakt zu hüten.
»Du hast immer gesagt, Tante May sei das schönste Kalendermädchen gewesen.«
»Ja«, sage ich mit einem Seitenblick auf meine Schwester, die von ihrer Illustrierten aufschaut. »Alle Maler liebten sie.«
»Aber wenn das so ist, warum ist dein Gesicht dann immer im Vordergrund dieser ganzen Zeitschriften, die Dad kauft? Du weißt schon, die aus China.«
»Ach, das stimmt ja nicht«, sage ich, doch sie hat es ganz richtig beobachtet. In den vier Jahren, seit Vater Louie jene Ausgabe von China Reconstructs kaufte, hat Z. G. noch sechs weitere Titelbilder gestaltet, auf denen die Gesichter von May und mir klar zu erkennen sind. In den alten Zeiten warben Maler wie Z. G. mit schönen Kalendermädchen für ein Leben in Luxus. Jetzt verwenden sie Poster, Kalender und Werbetafeln, um der ungebildeten Masse und der Außenwelt die Visionen der Kommunistischen Partei zu vermitteln. Bilder aus dem Boudoir, aus Salons und Bädern wurden durch patriotische Szenen ersetzt: May und ich mit ausgestreckten Armen, als wollten wir nach der strahlenden Zukunft greifen, wir beide mit Kopftüchern und Schubkarren voller Steine bei der Arbeit an einem Damm oder im flachen Wasser eines Reisfeldes. Auf jedem Titelbild stehen mein Gesicht mit den rosigen Wangen und mein Körper mit den langen Gliedern im Vordergrund, während meine Schwester im Hintergrund bleibt, einen Korb für mein Gemüse trägt, mein Fahrrad festhält oder den Kopf unter ihrer Last neigt, während ich in den Himmel schaue. Immer findet sich ein Hinweis auf Shanghai auf den Bildern: der dahinfließende Whangpoo vor einem Fabrikfenster, der Yu-Yuan-Garten in der chinesischen Altstadt, wo Soldaten in Uniform Schießübungen machen, der herrliche Bund, jetzt zweckmäßig und trist für Arbeiteraufmärsche. Statt der zarten Farben, romantischen Posen und weichen Linien, die Z. G. früher so liebte, ist nun alles schwarz umrandet und mit greller Farbe ausgemalt - vor allem in Rot, Rot, Rot.
Joy springt auf und geht auf die andere Seite der Veranda. Sie
mustert die Titelblätter, die May an die Wand über ihr Bett gehängt hat.
»Er muss dich wirklich geliebt haben«, sagt meine Tochter.
»Oh, das halte ich kaum für möglich«, entgegnet May an meiner Stelle.
»Du musst dir die Bilder mal genauer ansehen«, sagt Joy. »Siehst du nicht, was der Maler gemacht hat? Schmale, blasse, modische Mädchen, wie du damals eines warst, Tante May, wurden von robusten, gesunden, hart arbeitenden Frauen wie Mom abgelöst. Hast du mir nicht erzählt, euer Vater hätte sich immer beschwert, Mom hätte das Gesicht einer Bäuerin - gesund und rot? Ihr Gesicht ist perfekt für die Kommunisten.«
Töchter können wirklich grausam sein. Sie sagen Dinge, die sie nicht ernst meinen, doch ihre Worte verletzen trotzdem. Ich wende mich ab, schaue auf den Gemüsegarten und hoffe, dass man mir nichts anmerkt.
»Deshalb glaube ich, dass er dich liebt, Tante May. Das siehst du doch auch.«
Ich hole tief Luft. Ein Teil meines Kopfes hört meiner Tochter zu, der andere Teil interpretiert das noch einmal, was sie gerade gesagt hat. Mit »Deshalb glaube ich, dass er dich liebt« meinte sie nicht mich. Sie meinte May.
»Denn schau mal«, höre ich meine Tochter sagen. »Hier ist Mom, das perfekte ländliche Bauerngesicht, aber sieh mal, wie er dein Gesicht gemalt hat, Tante May. Es ist wunderschön, als wärst du eine Feenkönigin oder so.«
May antwortet nicht, doch ich spüre, dass sie die Bilder betrachtet.
»Wenn er dich jetzt sehen würde«, fährt meine Tochter fort, »würde er dich wahrscheinlich gar nicht wiedererkennen.«
Einfach so gelingt es meiner Tochter, sowohl ihre Mutter als auch ihre Tante zu verletzen, uns an der weichsten, empfindlichsten Stelle zu treffen. Ich drücke mir die Fingernägel in die Handflächen, um meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Ich ziehe
die Mundwinkel hoch, zeige die Zähne, drehe mich um und lege meiner Tochter die Hände auf die Schultern.
»Ich wollte dir nur Gute Nacht sagen. Du solltest jetzt zu Bett gehen. Und May«, sage ich leichthin, »könntest du mir bei den Geschäftsbüchern fürs Café helfen? Bei mir wollen die Zahlen einfach nicht
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