Toechter Aus Shanghai
zusammenpassen.«
Meine Schwester und mich verbindet ein Leben voll falschem Lächeln und der Flucht vor Dingen, die uns nicht gefallen. Wir verlassen die Veranda, tun so, als hätte Joy uns nicht wehgetan, doch sobald wir in der Küche sind, umarmen wir uns und geben uns Kraft und Trost. Wie können Joys Worte nach so vielen Jahren noch so schmerzhaft sein? Weil wir in uns nach wie vor den Traum von dem tragen, was gewesen sein könnte, was gewesen sein sollte, was wir uns immer noch zu sein wünschen. Das bedeutet nicht, dass wir unzufrieden wären. Wir sind zufrieden, doch die romantischen Sehnsüchte unserer Kindheit haben uns nie ganz verlassen. Es ist so, wie Yen-yen vor vielen Jahren sagte: »Manchmal schaue ich in den Spiegel und staune darüber, was ich sehe.« Ich blicke in den Spiegel und erwarte immer noch, ein Kalendermädchen zu sehen - nicht die Ehefrau und Mutter, die ich heute bin. Und May? In meinen Augen hat sie sich überhaupt nicht verändert. Sie ist genauso wunderschön - chinesisch schön, zeitlos.
»Joy ist noch ein Mädchen«, sage ich zu meiner Schwester. »Als wir in dem Alter waren, haben wir auch Dummheiten gesagt und getan.«
»Alles kehrt an den Anfang zurück«, erwidert May, und ich frage mich, ob sie damit die ursprüngliche Bedeutung dieses Sprichworts meint - dass wir immer an den Anfang zurückkehren, egal, was wir im Leben tun, dass wir Kinder haben, die uns nicht gehorchen, die uns verletzen und enttäuschen, genau wie wir einst ungehorsam waren, unsere Eltern verletzten und enttäuschten - oder ob sie an Shanghai denkt und daran, dass wir auf gewisse Weise seit unserer Flucht in jenen letzten Tagen in
unserer Heimat gefangen sind, auf immer dazu bestimmt, den Verlust unserer Eltern, unseres Hauses und die Trennung von Z. G. zu durchleben und die Folgen meiner Vergewaltigung und Mays Schwangerschaft zu tragen?
»Joy sagt so gemeine Dinge, damit du und ich zueinanderfinden«, behaupte ich, denn das hat Violet letztens zu mir gesagt. »Sie weiß, wie einsam wir ohne sie sein werden.«
May schaut zur Seite, ihre Augen glänzen.
Als ich am nächsten Morgen auf die Veranda gehe, sind die Titelblätter von China Reconstructs abgenommen.
Wir stehen auf dem Bahnsteig der Union Station und verabschieden uns von Joy. May und ich tragen weite Röcke mit Petticoats, die von einem schmalen Wildledergürtel gehalten werden. In der letzten Woche haben wir unsere Schuhe mit den Pfennigabsätzen eingefärbt, damit sie zu unseren Kleidern, Handschuhen und Taschen passen. Wir waren im Palace Salon und haben uns das Haar in Locken legen und zu beeindruckender Höhe auftürmen lassen, jetzt geschützt unter fröhlich bunten Tüchern, die wir geschickt unter dem Kinn verknotet haben. Sam trägt seinen besten Anzug und macht ein ernstes Gesicht. Und Joy sieht... nun ja, sie sieht fröhlich aus.
May greift in ihre Tasche und holt jenen Beutel mit den drei Kupfermünzen, drei Sesamsamen und drei Mungobohnen hervor, den Mama ihr vor vielen Jahren schenkte. Sie hat mich gefragt, ob sie den Beutel an Joy weitergeben dürfe. Ich hatte nichts dagegen, ärgerte mich aber, nicht selbst auf die Idee gekommen zu sein. May hängt Joy die Kordel um den Hals: »Das habe ich dir am Tag deiner Geburt geschenkt, damit es dich beschützt. Jetzt hoffe ich, dass du es trägst, wenn du nicht bei uns bist.«
»Danke, Tante May«, sagt meine Tochter und nimmt den Beutel fest in die Hand. »Ich werde nie wieder eine Orange auspressen oder eine Gardenie verkaufen, so lange ich lebe«, schwört sie, als sie ihren Vater umarmt. »Ich werde nie wieder Seersucker-Baumwolle
oder einen von diesen Filzpullis tragen«, verspricht sie mir nach dem Abschiedskuss. »Ich will nie wieder einen Rückenkratzer oder Souvenirs aus Kanton sehen.«
Wir hören uns ihre leichtsinnigen Worte an und reagieren mit guten Ratschlägen und letzten Ermahnungen: Wir hätten sie lieb, sie solle jeden Tag schreiben, sie könne anrufen, wenn es einen Notfall gebe, sie solle zuerst die Klöße von ihrem Baba essen, dann mit der Erdnussbutter und den Kräckern aus dem Picknickkorb weitermachen. Dann ist Joy im Zug, von uns getrennt durch ein Fenster, sie winkt und ruft uns lautlos zu: »Ich hab euch lieb! Ihr werdet mir fehlen!« Wir laufen neben dem Zug her, bis er aus dem Bahnhof ausgefahren ist, winken und weinen, bis unsere Kleine nicht mehr zu sehen ist.
Als wir nach Hause kommen, ist es, als sei der Strom abgeschaltet worden. Nur vier
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