Toechter Aus Shanghai
damit nur sagen, dass du Ärztin, Anwältin, Wissenschaftlerin oder Steuerberaterin werden kannst. Du kannst alles machen.«
»Auch auf einen Telefonmast klettern?«, fragt Joy frech.
»Wir möchten nur, dass du es ganz nach oben schaffst«, erwidere ich ruhig.
»Und deshalb gehe ich ja aufs College. Nie im Leben möchte ich im Café oder im Laden arbeiten.«
Das wünsche ich mir auch nicht für sie, und genau das habe ich doch gesagt. Dennoch finde ich es irgendwie traurig, dass meiner Tochter unsere Familienbetriebe - genau die Geschäfte, die für Joys Nahrung, Kleidung und Unterkunft gesorgt haben - so peinlich sind. Nicht zum ersten Mal versuche ich, es ihr zu erklären.
»Die Söhne von den Fongs sind Ärzte und Anwälte geworden,
und trotzdem helfen sie in Fongs Restaurant aus«, lege ich ihr dar. »Der eine Junge geht tagsüber zum Prozess ins Gericht. Abends kommen die Richter zum Essen ins Restaurant. Dann sagen sie: ›Kenne ich Sie nicht von irgendwoher?‹ Und was ist mit dem Sohn der Wongs? Der ging an die USC, aber er ist nicht zu stolz, seinem Vater am Wochenende an der Tankstelle zu helfen.«
»Ist doch unglaublich, dass du jetzt mit Henry Fong ankommst. Sonst beklagst du dich immer, er wäre ›zu europäisch‹ geworden, weil er dieses Mädchen geheiratet hat, dessen Familie aus Schottland kommt. Und Gary Wong versucht nur wiedergutzumachen, dass er seiner Familie das Herz gebrochen hat, eine lo fan heiratete und nach Long Beach zog, damit er dort ein westliches Leben führen kann. Freut mich, dass du so offen geworden bist.«
So verläuft Joys letzter Sommer zu Hause - ein kleinlicher Streit nach dem anderen. Bei einem unserer Gemeindetreffen erzählt mir Violet, sie mache dasselbe mit Leon durch, der im Herbst nach Yale gehen wird. »Es gibt Zeiten, da ist er so unangenehm wie ein Fisch, der zu lange hinter dem Sofa gelegen hat. Hier sagen die Leute, die Kinder würden flügge. Und auf jeden Fall will Leon fortfliegen. Er ist mein Sohn und mein Herzblut, aber er versteht nicht, dass ein Teil von mir ihn auch gehen lassen will. Geh! Geh! Und nimm deinen Gestank gleich mit!«
»Wir sind selbst schuld«, sage ich an einem anderen Abend zu Violet am Telefon, als sie weinend anruft, nachdem sich ihr Sohn beschwert hat, ihr Akzent würde sie für alle Zeit als Ausländerin abstempeln, und wenn sie gefragt würde, woher sie käme, solle sie antworten, aus Taipeh in Taiwan, nicht aus Peking in der Volksrepublik China, denn sonst würden J. Edgar Hoover und seine FBI-Agenten sie vielleicht beschuldigen, eine getarnte Spionin auf einer Aufklärungsmission zu sein. »Wir haben unsere Kinder zu Amerikanern erzogen, aber in Wirklichkeit wollten wir anständige chinesische Söhne und Töchter.«
May spürt die Anspannung im Haus und bietet Joy an, als
Komparsin zu arbeiten. Joy ist ganz aufgeregt vor Begeisterung. »Mom! Bitte! Tante May sagt, wenn ich bei ihr arbeite, habe ich mein eigenes Geld für Bücher, Essen und warme Kleider.«
»Dafür haben wir genug gespart.« Doch das stimmt nicht ganz. Das zusätzliche Geld wäre durchaus willkommen, aber Joy mit May losziehen zu lassen, ist das Letzte, was ich will.
»Nie darf ich etwas machen, das mir Spaß macht«, beschwert sich meine Tochter.
Mir fällt auf, dass May keinen Ton sagt, sondern uns nur beobachtet, weil sie weiß, dass der schelmische Tiger am Ende doch seinen Willen bekommt. Und so geht meine Tochter mehrere Wochen lang mit ihrer Tante zur Arbeit. Wenn sie abends heimkommt, erzählt sie ihrem Vater und Onkel Geschichten von ihren Abenteuern am Set, aber nebenbei findet sie immer Mittel und Wege, mich zu kritisieren. May sagt, ich solle Joys Aufsässigkeit ignorieren, das gehöre heutzutage zur Kultur, sie wolle nur so sein wie die amerikanischen Kinder in ihrem Alter. May versteht nicht, wie verwirrt ich bin. Jeden Tag trage ich einen inneren Kampf mit mir aus: Ich möchte, dass meine Tochter patriotisch ist und die unbegrenzten Möglichkeiten der Amerikaner bekommt. Gleichzeitig mache ich mir Sorgen, dass ich Joy nicht beigebracht habe, respektvoll, höflich und chinesisch zu sein.
Zwei Wochen vor Joys Abreise an die Universität von Chicago gehe ich abends auf die Veranda, um Gute Nacht zu sagen. May liegt in ihrem Bett an einem Ende der Veranda und blättert in einer Illustrierten. Joy sitzt auf ihrer Bettdecke, bürstet sich die Haare und hört sich diesen furchtbaren Elvis Presley auf dem Plattenspieler an. Die Wand über ihrem
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