Toechter Aus Shanghai
zwischen ihre Tante und mich zu treiben, dabei wollen wir alle doch nur wissen, ob der Marshall Miss Kitty jemals küssen wird.
Irgendwann hält Sam, der normalerweise alles akzeptiert, was aus dem Mund seiner Tochter kommt, es nicht mehr aus und
fragt auf Sze Yup, so ruhig und beherrscht er kann: »Schämst du dich eigentlich, Chinesin zu sein? Eine anständige chinesische Tochter wäre nämlich leise und würde ihre Eltern, ihre Tante und ihren Onkel nicht beim Fernsehen stören.«
Das war keine sehr hilfreiche Bemerkung, denn nun kommen Joy schreckliche Sätze über die Lippen. Sie macht sich über unsere Sparsamkeit lustig: »Ob ich mich schäme, Chinesin zu sein? Ich verstehe nur nicht, warum man als Chinese riesengroße Behälter für Sojasauce aufheben und als Mülleimer benutzen muss.« Sie spottet über mich: »Nur abergläubische Chinesen richten sich nach den Sternzeichen. Herrje, Tiger hier, Ratte da.« Sie verletzt ihre Tante und ihren Onkel: »Und was ist mit arrangierten Ehen? Guckt euch Tante May an, verheiratet für alle Zeiten mit einem... einem...« Sie zögert, wie wir alle mitunter zögern, und schließt dann mit: »einem, der sie nie zärtlich oder liebevoll berührt.« Joy verzieht vor Ekel das Gesicht. »Und guckt euch doch an, wie ihr alle zusammenlebt.«
Wenn ich ihr zuhöre, erkenne ich May und mich vor zwanzig Jahren wieder. Es macht mich traurig, wie wir unsere Eltern behandelten, doch als Joy beginnt, ihren Vater zu verletzen …
»Und wenn man als Chinese sein muss wie du... Deine Klamotten stinken nach dem, was du im Café kochst. Die Gäste beleidigen dich. Und deine Gerichte sind viel zu fettig, zu salzig und enthalten zu viel Glutamat.«
Die Worte treffen Sam schwer. Anders als May und ich liebt er Joy ohne Reue, bedingungslos, ohne seine Gefühle im Geringsten zu unterdrücken.
»Sieh mal in den Spiegel«, sagt er langsam. »Was glaubst du, was du bist? Was glaubst du, was die lo fan sehen, wenn du vor ihren stehst? Du bist nicht mehr als jook sing - hohler Bambus.«
»Dad, du sollst Englisch mit mir reden. Du lebst hier jetzt seit fast zwanzig Jahren. Kannst du es immer noch nicht?« Joy blinzelt ein paarmal und sagt: »Du bist einfach so... so... so FVS.«
Das Schweigen im Wohnzimmer ist durchdringend und grausam.
Als Joy merkt, was sie getan hat, neigt sie den Kopf, fährt sich durch ihr kurzes Haar und lächelt genauso, wie May es früher immer tat. Dieses Lächeln sagt: Ich bin unartig, ich bin ungehorsam, aber ihr könnt trotzdem nicht umhin, mich zu lieben . Anders als Sam verstehe ich, dass dies alles weniger mit Mao, Chiang Kai-shek, Korea, dem FBI oder unserer Lebensweise in den letzten zwanzig Jahren zu tun hat als vielmehr damit, was unsere Tochter von ihrer Familie denkt. May und ich hielten Mama und Baba früher für altmodisch, aber Joy schämt sich für uns, wir sind ihr peinlich.
»Manchmal glaubt man, alles noch vor sich zu haben«, sagte Mama oft. »Wenn die Sonne scheint, dann denkt daran, dass es auch wieder regnen kann, denn selbst wenn ihr mit geschlossener Tür in eurem Haus sitzt, kann das Unglück von oben auf euch herunterfallen.« Ich ignorierte Mama, als sie lebte, und dachte nicht oft genug an sie, als ich älter wurde, doch nach all den Jahren muss ich zugeben, dass es Mamas Voraussicht war, die uns das Leben rettete. Ohne ihre versteckten Ersparnisse wären wir damals in Shanghai alle umgekommen. Ein tief sitzender Instinkt trieb sie immer weiter, als May und ich fast gelähmt vor Angst waren. Sie war wie eine Gazelle, die ihre Kleinen in einer hoffnungslosen Situation vor dem Löwen retten will. Ich weiß, dass ich meine Tochter schützen muss - vor sich selbst, vor diesem Joe und seinen romantischen Vorstellungen von Rotchina, vor den Fehlern, mit denen May und ich es uns so schwer gemacht haben -, doch ich weiß nicht, wie.
Ich bin auf dem Weg zu Pearl’s Café, um etwas zu essen für Vern zu holen. Da sehe ich, wie der FBI-Agent Onkel Charley auf dem Bürgersteig anhält. Ich gehe an den beiden vorbei - Onkel Charley ignoriert mich, als würde er mich nicht kennen -, betrete das Café und lasse die Tür weit offen. Drinnen arbeiten Sam und unsere Angestellten ruhig weiter, während sie sich bemühen, etwas von dem zu verstehen, was von draußen hereindringt. May
kommt aus ihrem Büro, und wir stehen an der Theke, tun so, als würden wir uns unterhalten, doch wir sehen und hören genau zu.
»So, Charley, Sie waren also in China«,
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