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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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Erschütterung folgen, am schlimmsten sein. Es ist, als würde die Zeit stillstehen - ich glaube, diesen Ausdruck gibt es in jeder Kultur.
Ich empfinde es jedenfalls so. Ich bin erstarrt. Schwaden von Rauch und Gipsstaub steigen auf. Dann fällt klirrend das Glas aus den Fenstern des Hotels. Jemand stöhnt. Ein anderer schreit. Panik bricht auf der Straße aus, als ein weiterer Bomber über uns durch die Luft taumelt. Gleich darauf hören und spüren wir den Einschlag zweier weiterer Bomben. Später erfahre ich, dass sie an der Kreuzung Avenue Edouard VII und Thibet Road auftreffen, in der Nähe der Rennbahn, wo sich viele Flüchtlinge versammelt haben, weil dort kostenlos Reis und Tee verteilt werden. Die vier Bomben verwunden, verstümmeln oder töten insgesamt Tausende von Menschen.
    Mein erster Gedanke gilt May. Ich muss sie finden. Ich stolpere über zwei zerfetzte Körper. Die blutigen Kleider sind zerrissen. Ich kann nicht sagen, ob das Flüchtlinge, Shanghaier oder Shanghailänder sind. Auf der Straße liegen überall abgetrennte Arme und Beine. Eine ganze Schar von Hotelgästen und Angestellten drängt durch die Türen des Palace Hotels und strömt auf die Straße. Die meisten schreien, viele bluten. Menschen trampeln über Verletzte und Tote hinweg. Ich mische mich unter das panische Durcheinander, denn ich will zu der Stelle, wo ich May und Tommy zurückgelassen habe. Ich kann nichts sehen. Ich reibe mir die Augen, versuche vergeblich, den Staub und das Grauen wegzuwischen. Ich stoße auf das, was von Tommy übrig ist. Sein Hut fehlt, genau wie sein Kopf, doch ich erkenne seinen weißen Anzug wieder. May ist glücklicherweise nicht bei ihm, aber wo steckt sie?
    Ich kehre zum Palace Hotel zurück, denn vielleicht bin ich in der Hektik an ihr vorbeigelaufen. Die Nanking Road ist übersät mit Toten und Sterbenden. Ein paar schwer verletzte Männer taumeln wie betrunken mitten auf der Straße. Einige Autos brennen, bei anderen wurden die Fenster herausgesprengt. Im Inneren sitzen weitere Tote und Verwundete. Autos, Rikschas, Straßenbahnen, Schubkarren und ihre Insassen wurden von Bombensplittern durchsiebt. Häuser, Plakatwände und Zäune sind befleckt.
Die Gehsteige sind rutschig, wegen des geronnenen Blutes und der Fleischfetzen. Glasscherben glitzern auf der Straße wie Diamanten. Der Gestank unter der Augustsonne brennt mir in den Augen und schnürt mir die Kehle zu.
    »May!«, rufe ich und gehe ein paar Schritte weiter. Immer wieder rufe ich ihren Namen, versuche ihre Antwort in all der Panik um mich herum zu hören. Bei allen Verletzten oder Leichen bleibe ich stehen und sehe sie mir genauer an. Wie kann sie überlebt haben, wenn es so viele Tote gibt? Sie ist so zart und zerbrechlich.
    Und dann entdecke ich durch die Menge hindurch, inmitten all des Blutes und des Drecks, den Blauton eines Rotkehlcheneis mit einem Muster aus weißen Pflaumenblüten. Ich laufe los und finde meine Schwester. Sie ist halb unter Gips und Schutt vergraben. Entweder ist sie bewusstlos oder tot.
    »May! May!«
    Sie bewegt sich nicht. Angst ergreift mein Herz. Ich knie mich neben sie. Ich sehe keine Wunden, aber sie hat Blutflecken auf dem Kleid, von der Frau neben ihr, die grauenhafte Verletzungen erlitten hat. Ich wische May das Kleid sauber und beuge mich ganz nahe an ihr Gesicht. Ihre Haut ist weiß wie Kerzenwachs. »May«, sage ich leise. »Wach auf! Komm schon, May, wach auf!«
    Sie rührt sich. Ich rede ihr weiter gut zu. Blinzelnd öffnet sie die Augen, stöhnt und schließt sie wieder.
    Ich überhäufe sie mit Fragen: »Bist du verletzt? Tut dir etwas weh? Kannst du dich bewegen?«
    Als sie mit einer Gegenfrage antwortet, entspannt sich mein ganzer Körper vor Erleichterung.
    »Was ist passiert?«
    »Das war eine Bombe. Ich konnte dich nicht finden. Sag mir, dass es dir gut geht.«
    Sie bewegt erst die eine Schulter, dann die andere. Sie zuckt zusammen, aber es scheint nur ein leichter Schmerz zu sein.
    »Hilf mir auf«, sagt sie.

    Ich schiebe ihr eine Hand in den Nacken und ziehe sie zum Sitzen hoch. Als ich loslasse, klebt Blut an meiner Hand.
    Überall um uns herum stöhnen Verletzte. Manche rufen nach Hilfe. Manche schnappen ein letztes Mal qualvoll gurgelnd nach Luft. Manche brüllen vor Entsetzen, weil sie einen geliebten Menschen völlig zerfetzt vorfinden. Aber ich war schon häufig in dieser Straße, und nun herrscht dort eine Stille, die einen frösteln lässt, als würden die Toten alle Geräusche in

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