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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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wir arbeiten, malen bereits Kalender und Werbung für das nächste Frühjahr. Was werden sich die Modeschöpfer aus dem Westen im nächsten Jahr wohl einfallen lassen? Kommt ein Knopf an die Manschette, wird der Saum gekürzt, der Halsausschnitt tiefer, die Taille enger? Wir beschließen, uns die Schaufenster an der Nanking Road anzusehen und uns vorzustellen, wie die neuesten Änderungen ausfallen könnten. Dann wollen wir in der Kurzwarenabteilung des hoch aufragenden Wing-On-Kaufhauses vorbeischauen, um Bänder, Spitze und andere Bordüren zu kaufen, mit denen wir unsere Sachen auffrischen können.
    May zieht ein Kleid im Blauton eines Rotkehlcheneis mit einem Muster aus weißen Pflaumenblüten an. Ich trage eine weit geschnittene weiße Leinenhose und ein marineblaues kurzärmeliges
Oberteil. Den restlichen Vormittag verbringen wir damit, zu begutachten, was noch in unserem Schrank ist. May benötigt immer Stunden für ihre Toilette, sucht den passenden Schal heraus, den sie sich um den Hals binden will, oder die richtige Tasche, die mit ihren Schuhen harmoniert. Sie sagt mir, was wir brauchen können, und ich schreibe es auf.
    Es ist später Nachmittag, als wir uns die Hüte feststecken und die Sonnenschirme nehmen, die uns vor der Sommersonne schützen sollen. Wie gesagt, der August in Shanghai ist brütend heiß und feucht, der Himmel ist weiß und drückend von Hitze und Wolken. Heute jedoch ist ein heißer, klarer Tag. Fast hätte man ihn als angenehm empfinden können, wären nicht Tausende von Menschen auf der Straße. Sie haben Körbe dabei, Hühner, Kleidung, Nahrungsmittel und Ahnentafeln. Großmütter und Mütter mit gebundenen Füßen werden von Söhnen und Ehemännern gestützt. Brüder schleppen Stangen auf den Schultern wie Kulis. In den Körben, die an deren Enden hängen, sitzen ihre kleinen Brüder und Schwestern. Die Alten, Kranken und Missgebildeten werden in Schubkarren transportiert. Wer es sich leisten kann, bezahlt Kulis dafür, seine Koffer, Truhen und Kisten zu schleppen, aber die meisten Leute kommen vom Land und sind arm. May und ich sind froh, als wir in eine Rikscha steigen und uns von den anderen absetzen können.
    »Was sind das für Leute?«, fragt May.
    Ich muss erst nachdenken, so sehr distanziere ich mich von dem, was um mich herum geschieht. Ich grüble über ein Wort, das ich noch nie zuvor laut ausgesprochen habe.
    »Flüchtlinge sind das.«
    Mit gerunzelter Stirn lässt May das auf sich wirken.
    Sollte es sich so anhören, als wäre diese plötzliche Unruhe aus dem Nichts gekommen, dann nur, weil es für uns wirklich so war. May schenkt der Welt keine große Beachtung, aber ich weiß ein paar Dinge. Im Jahr 1931, als ich fünfzehn war, marschierten die Zwergbanditen in die Mandschurei hoch im Norden ein und
setzten eine Marionettenregierung ein. Vier Monate später, zu Beginn des neuen Jahres, besetzten sie den Stadtbezirk Chapei, auf der anderen Seite des Soochow Creek gleich neben Hongkew, wo wir wohnen. Zuerst dachten wir, es wäre ein Feuerwerk. Baba ging mit mir zum Ende der Northern Szechuan Road, und dort sahen wir, was wirklich los war. Die Bombenexplosionen waren schrecklich, und noch schlimmer war es anzusehen, wie die Shanghailänder in ihrer Abendgarderobe Schnaps aus der Flasche tranken, Sandwiches aßen, Zigaretten rauchten und lachend das Spektakel betrachteten. Die chinesische 19. Route-Armee verteidigte sich ohne die Hilfe der Ausländer, die durch unsere Stadt reich geworden waren. Japan weigerte sich elf Wochen lang, einem Waffenstillstandsabkommen zuzustimmen. Chapei wurde wieder aufgebaut, und wir vergaßen den Vorfall.
    Letzten Monat fielen dann Schüsse auf der Marco-Polo-Brücke in der Hauptstadt. Der Krieg begann offiziell, aber niemand dachte, dass die Zwergbanditen so schnell so weit in den Süden vorrücken würden. Sollten sie doch Hopei, Shantung, Shansi und ein bisschen von Honan einnehmen, dachten die meisten. Das Affenvolk würde Zeit brauchen, um diese ganzen Gebiete richtig zu besetzen. Erst wenn es seine Herrschaft stabilisiert und Aufstände niedergeschlagen hätte, würde es überhaupt in Erwägung ziehen, Richtung Süden ins Yangtze-Delta zu marschieren. Die armen Menschen, die unter der fremden Herrschaft würden leben müssen, wären dann wang k’uo nu - Sklaven ohne Land. Wir begreifen nicht, dass der Strom von Flüchtlingen, die über die Waibaidu-Brücke zieht, sich über zehn Meilen ins Land hinein erstreckt. Es gibt so vieles,

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