Toechter Aus Shanghai
uns vermissen werden. May und ich wachen früh am nächsten Morgen auf, ziehen uns an und verlassen das Haus, bevor die anderen aufgestanden sind. Als wir am Abend zurückkehren - nachdem das Schiff längst abgelegt hat -, weint Mama vor Freude darüber, dass wir noch da sind, und Baba brüllt uns an, weil wir unsere Pflicht nicht erfüllt haben.
»Euch ist nicht klar, was ihr getan habt«, schreit er. »Das wird Schwierigkeiten geben.«
»Du machst dir viel zu viele Sorgen«, sagt May mit glockenheller Stimme. »Der Alte Herr Louie und seine Söhne haben Shanghai verlassen, und in ein paar Tagen sind sie für immer aus China verschwunden. Sie können uns jetzt nichts mehr anhaben.«
Baba kocht vor Wut, das erkennt man an seiner Miene. Kurz glaube ich, dass er May schlagen will, doch dann ballt er die Hände zu Fäusten, marschiert in Richtung Wohnzimmer und knallt die Tür zu. May sieht mich an und zuckt die Achseln. Dann wenden wir uns unserer Mutter zu, die mit uns in die Küche geht und Koch anweist, Tee zu kochen und uns ein paar von den wertvollen englischen Butterkeksen zu geben, die er in einer Büchse aufbewahrt.
Elf Tage später regnet es am Morgen, daher sind die Hitze und die Feuchtigkeit nicht ganz so schlimm wie sonst. Z. G. zeigt sich
heute spendabel und holt ein Taxi, das uns zur Lunghua-Pagode am Stadtrand bringt. Sonderlich schön ist es hier nicht. Es gibt eine Landebahn, einen Hinrichtungsplatz und ein Lager für chinesische Truppen. Wir stapfen über das Feld, bis Z. G. eine geeignete Stelle findet, um den Drachen steigen zu lassen. Einige der Soldaten - sie tragen ausgefranste Turnschuhe und verblichene, schlecht sitzende Uniformen mit Rangabzeichen an den Schultern - lassen einen jungen Hund laufen, mit dem sie gerade gespielt haben, und helfen uns.
Jeder Pirol ist mit einem Haken und einer eigenen Schnur an der Hauptleine befestigt. May hebt den vordersten Pirol auf und hält ihn hoch. Mit Hilfe der Soldaten mache ich den nächsten Pirol mit der dazugehörigen Schnur an der Hauptleine fest. Ein Pirol nach dem anderen hebt ab, bis bald ein Schwarm von zwölf Pirolen durch die Luft rauscht, herabschießt und wieder in den Himmel aufsteigt. Sie sehen so frei aus dort oben. Mays Haare wehen im Wind. Sie schützt die Augen mit der Hand, wenn sie zum Himmel hinaufblickt. Z. G.s Brille glitzert im Licht, und er lacht. Er winkt mich zu sich und reicht mir den Griff des Drachens. Die Pirole sind aus Papier und Balsaholz, aber der Wind zieht kräftig daran. Z. G. stellt sich hinter mich und legt die Hände über meine, um mir zu helfen. Er drückt die Oberschenkel an mich, und mein Rücken ruht an seinem Bauch. Ich atme seine Nähe ein. Er merkt sicherlich, was ich für ihn empfinde. Obwohl er mich hält, zieht der Drachen so kräftig, dass ich mir vorstellen kann, von den Pirolen hinauf in die Wolken und noch weiter gezogen zu werden.
Mama hat uns oft die Geschichte von der Zikade erzählt, die hoch oben in einem Baum sitzt. Sie zirpt und trinkt Tau, ohne die Gottesanbeterin hinter sich zu bemerken. Die Gottesanbeterin hebt das Vorderbein, um die Zikade zu stechen, aber sie weiß nicht, dass hinter ihr ein Pirol sitzt. Der Vogel reckt den Hals, um die Gottesanbeterin zum Mittagessen zu verspeisen, hat aber nicht gemerkt, dass ein Junge mit einem Netz in den Garten gekommen
ist. Drei Geschöpfe - die Zikade, die Gottesanbeterin und der Pirol -, alle begehren sie eine Beute, ohne sich der grö ßeren und unausweichlichen Gefahr bewusst zu sein, die ihnen selbst droht.
Später an diesem Nachmittag fallen die ersten Schüsse zwischen chinesischen und japanischen Soldaten.
WEISSE PFLAUMENBLÜTEN
Am nächsten Morgen, dem 14. August, schlafen wir lange, wachen aber auf, als es draußen unruhig wird. Wir hören Menschen und Tiere. Wir öffnen den Vorhang und sehen ganze Menschenmengen an unserem Haus vorbeiziehen. Ob wir neugierig sind, was da los ist? Nicht im Mindesten, denn uns beschäftigt allein die Frage, wie wir den einen Silberdollar, den wir haben, auf unserer geplanten Einkaufstour am sinnvollsten ausgeben können. Das ist keineswegs so schlicht und einfältig, wie es sich anhört. Als Kalendermädchen müssen wir modisch gekleidet sein. May und ich haben uns alle Mühe gegeben, die Sachen im westlichen Stil, die uns der Alte Herr Louie dagelassen hat, neu zusammenzustellen, aber wir müssen auf dem Laufenden bleiben. Wir denken gar nicht an die neue Herbstmode, denn die Künstler, für die
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