Toechter Aus Shanghai
ihre dunkle Leere hineinsaugen.
Ich lege die Arme um May und ziehe sie auf die Füße. Sie wankt, und ich fürchte, sie könnte wieder das Bewusstsein verlieren. Ich lege ihr den Arm um die Taille, und so gehen wir ein paar Schritte. Aber wohin? Noch sind keine Krankenwagen da. Wir hören sie nicht einmal in der Ferne, doch aus benachbarten Straßen kommen Menschen - unverletzt und in überraschend sauberer Kleidung. Sie eilen von einem Toten zum nächsten, von einem Verletzten zum anderen.
»Tommy?«, fragt May. Als ich den Kopf schüttle, sagt sie: »Bring mich zu ihm.«
Ich halte das für keine gute Idee, aber sie besteht darauf. Als wir bei seiner Leiche ankommen, geben Mays Knie nach. Wir setzen uns auf den Randstein. Mays Haare sind ganz weiß von Gipsstaub. Sie sieht aus wie ein Geist. Wahrscheinlich ist das bei mir nicht anders.
»Ich muss sichergehen, dass du wirklich nicht verletzt bist«, sage ich zu ihr, auch um Mays Aufmerksamkeit von Tommys Leiche abzulenken. »Lass mich mal sehen.«
May dreht mir den Rücken zu, wendet sich von Tommy ab. Ihre Haare sind von dem bereits gerinnenden Blut verklebt, was ich als gutes Zeichen nehme. Sorgsam teile ich ihre Locken, bis ich eine Wunde am Hinterkopf entdecke. Ich bin zwar keine Ärztin, aber ich finde, die Wunde sieht nicht aus, als müsse sie genäht werden. Allerdings war May ohnmächtig. Ich möchte, dass mir jemand sagt, ob es jetzt sicher ist, sie nach Hause zu bringen.
Wir warten und warten, doch selbst nachdem die Krankenwagen gekommen sind, hilft uns niemand. Zu viele andere brauchen sofortige Aufmerksamkeit. Als die Dämmerung anbricht, entscheide ich, dass wir nach Hause gehen, aber May möchte Tommy nicht zurücklassen.
»Wir kennen ihn schon unser ganzes Leben lang. Was würde Mama sagen, wenn wir ihn hier einfach liegen lassen? Und seine Mutter…« Sie zittert, weint jedoch nicht. Dafür sitzt ihr Schock zu tief.
Als Möbelwagen kommen, um die Toten abzuholen, spüren wir aus der Ferne die Erschütterungen von weiteren Bombeneinschlägen und hören das Rattern von Maschinengewehren. Keiner von uns hier auf der Straße macht sich irgendwelche Illusionen darüber, was das bedeutet. Die Zwergbanditen greifen an. Die Internationale Siedlung oder eine der ausländischen Konzessionen werden sie nicht bombardieren, aber Chapei, Hongkew, die chinesische Altstadt sowie die chinesischen Viertel außerhalb müssen unter Beschuss sein. Menschen schreien und weinen, doch May und ich kämpfen gegen unsere Angst an und bleiben bei Tommys Leichnam, bis er auf eine Bahre gehoben und in einen der Lastwagen gelegt wird.
»Ich will jetzt nach Hause«, sagt May, nachdem der Lastwagen abgefahren ist. »Mama und Baba machen sich bestimmt Sorgen. Und ich will nicht draußen sein, wenn der Generalissimus noch mehr von unseren Flugzeugen in die Luft schickt.«
Sie hat recht. Unsere Luftwaffe hat bereits bewiesen, wie unfähig sie ist, und wir sind heute Nacht auf der Straße nicht sicher, wenn die Flieger wieder in die Luft aufsteigen. Daher laufen wir nach Hause. Wir sind beide von Blutspritzern und Gipsstaub überzogen. Passanten weichen uns aus, als brächten wir ihnen mit jedem Schritt den Tod. Mama wird zwar völlig außer sich geraten, wenn sie uns sieht, aber ich sehne mich nach ihrer Sorge und ihren Tränen, unweigerlich gefolgt von ihrer Verärgerung darüber, dass wir uns in eine solche Gefahr begeben haben.
Wir gehen ins Haus und in den Salon. Die dunkelgrünen Vorhänge im westlichen Stil, an deren Saum kleine Samttroddel hängen, sind vorgezogen. Die Bomben haben die Stromleitungen zerstört, und das Zimmer wird von weichem, warmen, tröstenden Kerzenlicht beleuchtet. In den Wirrnissen dieses Tags habe ich unsere Mieter ganz vergessen, doch das beruht nicht auf Gegenseitigkeit. Der Schuster hockt neben meinem Vater auf dem Boden. Der Student beugt sich über Mamas Sessel und macht ein aufmunterndes Gesicht. Die beiden Tänzerinnen stehen mit dem Rücken zur Wand und spielen nervös mit den Fingern. Die Frau und die zwei Töchter des Polizisten kauern auf der Treppe.
Als Mama uns sieht, schlägt sie die Hände vors Gesicht und weint. Baba kommt quer durch den Raum gelaufen, umarmt May und trägt sie halb zu seinem Sessel. Die Leute drängen sich um sie, betasten sie, um sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich unverletzt ist - sie fassen ihr ins Gesicht und tätscheln ihre Schenkel und Arme. Alle reden durcheinander.
»Bist du
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