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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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Verbände oder Medizin mitzunehmen. Die Schatten werden länger. Ohne es mit uns abzusprechen, biegt der Schubkarrenfahrer in einen Weg ein, der zu einem kleinen, strohgedeckten Bauernhaus führt. Ein Pferd ist dort angebunden, es knabbert gelbe Bohnen aus einem Eimer, und auf dem Boden vor der offenen Tür picken Hühner. Als der Fahrer den Schubkarren absetzt und die Arme ausschüttelt, tritt eine Frau aus dem Haus.
    »Ich habe hier drei Frauen«, sagt unsere Fahrer in seinem rauen, ländlichen Dialekt. »Wir brauchen etwas zu essen und einen Platz zum Schlafen.«
    Die Frau sagt nichts, winkt uns aber herein. Sie schüttet heißes Wasser in einen Bottich und deutet auf Mays und meine Füße. Wir ziehen uns die Schuhe aus und stecken die Füße ins Wasser. Die Frau kehrt mit einem Tonkrug zurück. Mit den Fingern schmiert sie uns eine übel riechende, selbst gemachte Paste auf die geplatzten Blasen. Dann widmet sie sich Mama. Sie führt meine Mutter zu einem Hocker in der Ecke, gießt wieder Wasser in einen Eimer und stellt sich dann so hin, dass sie Mama vor unseren Blicken abschirmt. Trotzdem kann ich sehen, wie sich Mama nach vorne beugt und ihre Bandagen abwickelt. Ich wende mich ab. Die Pflege ihrer Füße ist für Mama das Intimste, was es gibt. Ich habe sie nie barfuß gesehen, und ich will es auch nicht.
    Sobald Mamas Füße gewaschen und in saubere Bandagen
gewickelt sind, macht sich die Frau daran, das Essen zuzubereiten. Wir geben ihr etwas von unserem Reis, den sie in einen Topf mit kochendem Wasser schüttet. Dann fängt sie an, unablässig zu rühren, wodurch sich die beiden Zutaten zu jook verbinden.
    Zum ersten Mal gestatte ich mir, mich umzusehen. Es ist schmutzig hier, und mir ist nicht wohl dabei, in diesem Raum etwas zu essen oder zu trinken. Die Frau scheint das zu bemerken. Sie stellt leere Schalen und blecherne Suppenlöffel auf den Tisch, zusammen mit einem Topf heißen Wassers. Sie deutet darauf.
    »Was sollen wir denn tun?«, fragt May.
    Mama und ich wissen es nicht, aber unser Schubkarrenfahrer nimmt den Topf, gießt das heiße Wasser in die Schalen, taucht unsere Löffel hinein, rührt kräftig herum und schüttet die Flüssigkeit auf den festgestampften Boden aus, wo sie versickert. Danach serviert uns die Frau den jook , auf den sie noch etwas gebratenes Karottengrün gelegt hat. Das Kraut schmeckt bitter auf der Zunge und sauer im Hals. Die Frau geht und kommt einen Augenblick später mit getrocknetem Fisch zurück, den sie May in die Schale legt. Dann stellt sie sich hinter May und massiert ihr die Schultern.
    Zorn durchzuckt mich. Diese Frau - arm und offensichtlich ungebildet, eine völlig Fremde - hat dem Schubkarrenfahrer den meisten jook in die Schüssel gegeben, hat Mamas Intimsphäre geschützt, und nun kümmert sie sich um May. Was habe ich nur an mir, dass sogar Fremde mich als wertlos erachten?
    Nach dem Essen geht unser Fahrer hinaus, um neben seinem Schubkarren zu schlafen, während wir uns auf Strohmatten legen, die auf dem Boden ausgebreitet wurden. Ich bin erschöpft, aber in Mamas tiefstem Inneren scheint ein Feuer zu brennen. Die Launenhaftigkeit, die immer Teil ihrer Persönlichkeit war, löst sich auf, als sie von ihrer Kindheit erzählt und von dem Haus, in dem sie aufwuchs.
    »Als ich ein kleines Mädchen war, haben meine Mama, die
Tanten, meine Schwestern und alle meine Cousinen im Sommer auf genau solchen Matten draußen im Freien geschlafen«, erinnert sich Mama. Sie spricht ganz leise, um unsere Gastgeberin nicht zu stören, die auf einem Podest neben dem Ofen schläft. »Ihr habt meine Schwestern nie kennengelernt, aber wir waren euch beiden sehr ähnlich.« Sie lacht wehmütig. »Wir hatten uns lieb und konnten genauso gut streiten. Doch in diesen Sommernächten, in denen wir draußen unter freiem Himmel lagen, da gab es keinen Streit. Wir haben den Geschichten gelauscht, die meine Mutter erzählt hat.«
    Draußen zirpen die Zikaden. Aus der Ferne hört man den Einschlag der Bomben, die auf unsere Heimatstadt abgeworfen werden. Die Explosionen vibrieren im Boden und in unseren Körpern nach. Als May wimmert, sagt Mama: »Ich schätze mal, ihr seid noch nicht zu alt, um euch jetzt eine Geschichte anzuhören …«
    »Ach ja, Mama, bitte«, drängelt May. »Erzähl uns die von den Mondschwestern.«
    Mama streckt den Arm aus und streichelt May liebevoll. »In alter Zeit«, hebt sie mit einer Stimme an, die mich in meine Kindheit zurückversetzt, »lebten einmal

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