Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
Vom Netzwerk:
sich auf ernsthafte Verhandlungen einzulassen.

    »Wer versucht denn jetzt, Shanghai zu verlassen?«, fragt er schlau. »Ich will nicht vom Affenvolk getötet werden.«
    Ich verschweige ihm, dass die Grüne Bande hinter uns her ist. Stattdessen sage ich: »Wir wollen nach Hause in die Provinz Kwangtung.«
    »So weit fahre ich Sie nicht!«
    »Natürlich nicht. Aber wenn Sie uns bis zum Kaiserkanal bringen könnten …«
    Ich erkläre mich bereit, ihm den doppelten Tagesverdienst zu zahlen.
    Wir kehren zum Haus zurück. Er verstaut unsere Sachen in dem Schubkarren. Ein paar in Tuch gewickelte Beutel, die unsere Kleider enthalten, legen wir gegen die Rückseite des Schubkarrens, damit sich Mama anlehnen kann.
    »Bevor wir aufbrechen«, sagt Mama, »möchte ich euch Mädchen das hier geben.« Sie hängt erst May, dann mir ein winziges Stoffbeutelchen an einer Schnur um den Hals. »Ich habe sie bei einem Wahrsager gekauft. Sie enthalten drei Kupfermünzen, drei Sesamsamen und drei Mungobohnen. Er hat gesagt, sie schützen euch vor bösen Geistern, Krankheiten und den fliegenden Maschinen der Zwergbanditen.«
    Meine Mutter ist wirklich unheimlich abergläubisch, naiv und altmodisch. Wie viel hat sie wohl für diesen Unsinn bezahlt - fünfzig Kupfermünzen pro Stück? Mehr?
    Sie klettert in den Schubkarren und rückt so lange herum, bis sie bequem sitzt. In der Hand hält sie unsere Papiere - die Schiffs billets, unsere Heiratsurkunden und das Handbuch -, in ein Stück Seide gewickelt und mit einem seidenen Band verschnürt. Dann werfen wir einen letzten Blick auf unser Haus. Weder Koch noch unsere Mieter sind nach draußen gekommen, um uns zum Abschied zu winken oder uns Glück zu wünschen.
    »Bist du sicher, dass es nicht besser wäre, hierzubleiben?«, fragt May ängstlich. »Was ist mit Baba? Was ist, wenn er heimkommt? Was ist, wenn er irgendwo verletzt wurde?«

    »Euer Vater hat das Herz einer Hyäne und die Lunge eines Python«, sagt Mama. »Würde er euretwegen hierbleiben? Würde er nach euch suchen? Und wenn ja, weshalb ist er dann nicht hier?«
    Ich glaube gar nicht, dass Mama so gefühllos sein möchte. Baba hat uns belogen und uns in eine schlimme Situation gebracht, aber er ist immer noch ihr Ehemann und unser Vater. Mama hat jedoch recht. Falls Baba noch lebt, denkt er wahrscheinlich nicht an uns. Wir können uns auch keine Sorgen um ihn machen, wenn wir irgendeine Überlebenschance haben wollen.
    Der Fahrer packt die Griffe des Schubkarrens, Mama hält sich an der Seite fest, und es geht los. May und ich laufen zunächst rechts und links von dem Schubkarren. Wir haben einen langen Weg vor uns, und wir wollen nicht, dass der Junge zu schnell müde wird. Wie es so schön heißt: Keine Last ist leicht, wenn man sie hundert Schritte weit tragen muss.
    Wir überqueren die Waibaidu-Brücke. Die Männer und Frauen um uns herum in dick wattierten Baumwollsachen tragen alles bei sich, was sie besitzen: Vogelkäfige, Puppen, Reissäcke, Uhren, zusammengerollte Plakate. Als wir am Bund entlanglaufen, schaue ich über den Whangpoo. Ausländische Kreuzer schimmern in der Sonne, aus ihren Schornsteinen steigen schwarze Rauchwolken. Die Idzumo und ihre Begleitschiffe liegen im Wasser - massig, grau und unbeeinträchtigt vom chinesischen Feuer. Dschunken und Sampans schaukeln auf den Wellen. Selbst jetzt, da Krieg herrscht, schleppen überall Kulis schwere Lasten hin und her.
    An der Nanking Road, wo man mit Sand und Desinfektionsmittel das Blut und den Gestank des Todes entfernt hat, wenden wir uns nach rechts. Die Nanking Road geht irgendwann in die Bubbling Well Road über. Auf der von Bäumen überschatteten Straße herrscht viel Betrieb, und es ist schwer, sich bis zum Westbahnhof durchzuschlagen. Die Waggons der Züge sind auf vier Ebenen mit Menschen beladen: auf dem Boden, den Sitzen, in
den Schlafkojen und auf den Dächern. Unser Fahrer läuft weiter. Überraschend schnell weichen Beton und Granit Reis- und Baumwollfeldern. Mama holt etwas zu essen für uns hervor und sorgt dafür, dass unser Fahrer eine großzügige Portion erhält. Ein paarmal halten wir an, um uns hinter einem Busch oder einem Baum zu erleichtern. Wir laufen während der größten Hitze. Ab und zu schaue ich zurück und sehe den Rauch von Chapei und Hongkew aufsteigen. Ich stelle mir die sinnlose Frage, wann die Feuer wohl ausgebrannt sein werden.
    An unseren Fersen und den Zehen bilden sich Blasen, aber wir haben nicht daran gedacht,

Weitere Kostenlose Bücher