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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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doch offensichtlich.

    May beweist wieder einmal, wie gründlich sie sich schon alles zurechtgelegt hat.
    »Du musst die Bauernkleidung anziehen, die ich dir gekauft habe. Sie verdeckt alles. Die Frauen vom Land wollen nicht, dass man ihren Körper sieht - sie wollen weder die Aufmerksamkeit eines Mannes auf sich ziehen noch zeigen, dass sie ein Kind erwarten. Dir ist doch auch nicht aufgefallen, wie dick mein Bauch geworden ist, oder? Wenn es sein muss, kannst du dir später ein Kissen in die Hose stopfen. Wer schaut da schon genauer hin? Wen kümmert es? Wir müssen nur dafür sorgen, dass wir den Aufenthalt hier hinauszögern.«
    »Wie lange?«
    »Ungefähr noch vier Monate.«
    Ich weiß nicht mehr, was ich tun oder sagen soll. May ist meine Schwester, meine einzige lebende Verwandte, und ich habe Mama versprochen, für sie zu sorgen. Daher treffe ich eine Entscheidung, die sich auf den Rest meines Lebens auswirken wird - und auf das von May.
    »In Ordnung. Ich mache es.«
    Ich bin so überwältigt von all den Ereignissen des Tages, dass ich gar nicht mehr frage, wie sie das Kind eigentlich zur Welt bringen will, ohne dass die Behörden davon erfahren.
     
    In den kommenden Wochen wird uns schmerzlich bewusst, was es wirklich bedeutet, China verlassen zu haben und hierhergekommen zu sein. Hoffnungsvolle - dumme - Leute nennen Angel Island das Ellis Island des Westens. Wer gegen die Einwanderung von Chinesen ist, gibt der Insel den Namen »Hüter des westlichen Tores«. Wir Chinesen bezeichnen sie als Insel der Unsterblichen. Die Zeit vergeht so langsam, dass wir das Gefühl haben, uns bereits im Jenseits zu befinden. Die Tage ziehen sich hin, und der Ablauf des Alltags ist so vorhersehbar und wenig bemerkenswert wie die Darmentleerung. Alles ist geregelt. Wir haben nicht den geringsten Einfluss darauf, wann oder was wir essen,
wann das Licht an- oder ausgeschaltet wird, wann wir zu Bett gehen oder aufstehen. Im Gefängnis verliert man alle Privilegien.
    Als Mays Bauch dicker wird, schlafen wir in den unteren Stockbetten, damit sie nicht so hoch klettern muss. Wenn wir morgens aufwachen, ziehen wir uns gleich an. Die Wachen führen uns zum Speisesaal - der Raum ist überraschend klein, wenn man bedenkt, dass hier an manchen Tagen über dreihundert Mahlzeiten serviert werden. Wie überall auf Angel Island werden auch im Speisesaal die einzelnen Gruppen voneinander getrennt. Die Europäer, Asiaten und Chinesen haben jeweils eigene Köche, eigenes Essen und eigene Essenszeiten. Wir haben eine halbe Stunde für das Frühstück und müssen den Saal vollständig geräumt haben, bevor die nächste Gruppe kommt. An langen Holztischen löffeln wir jook , dann führen uns die Wachen zurück in unseren Schlafsaal und sperren uns wieder ein. Manche Frauen bereiten Tee mit heißem Wasser aus einem Topf auf der Heizung zu. Andere essen, was ihnen Verwandte aus San Francisco geschickt haben: Nudeln, eingelegtes Gemüse und Teigtaschen. Die meisten schlafen wieder ein und wachen erst auf, wenn die Missionarinnen kommen, um uns von ihrem einen Gott zu erzählen und uns Nähen und Stricken beizubringen. Eine Oberin empfindet Mitleid für mich: eine Schwangere, die auf Angel Island festsitzt. »Ich könnte Ihrem Mann ein Telegramm schicken«, bietet sie mir an. »Sobald er erfährt, dass Sie hier sind und noch dazu in anderen Umständen, wird er herkommen und alles regeln. Ihr Kind soll doch nicht hier zur Welt kommen. Sie brauchen ein anständiges Krankenhaus.«
    Aber ich will keine Hilfe, zumindest noch nicht.
    Zum Mittagessen gibt es im Speisesaal kalten Reis mit Sojasprossen, die zu Brei zerkocht sind, jook mit Schweinefleisch oder Tapiokasuppe mit Kräckern. Das Abendessen besteht aus einem Hauptgericht - getrockneter Tofu mit Schweinefleisch, Kartoffeln und Rindfleisch, Limabohnen und Schweinehaxe oder getrocknetes Gemüse mit Flunder. Manchmal bekommen wir
groben roten Reis, der kaum genießbar ist. Alles sieht aus und schmeckt, als wäre es schon einmal gegessen worden. Manche Frauen legen Fleischstückchen in meine Schüssel. »Für deinen Sohn«, sagen sie. Dann muss ich diese Häppchen irgendwie May zukommen lassen.
    »Warum besuchen euch eure Männer eigentlich nicht?«, fragt uns eines Abends eine Frau beim Essen. Mit Vornamen heißt sie Kehrschaufel, aber alle rufen sie bei ihrem Ehenamen Lee-shee. Sie sitzt sogar seit noch längerer Zeit hier fest als May und ich. »Sie könnten sich einen Anwalt nehmen. Und sie

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