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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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Drache. »Du könntest De - Tugend - als Basis nehmen und dann jeder Tochter einen entsprechenden Namen geben, Freundliche Tugend, Mondtugend, Weise Tugend…«
    »Viel zu viel Aufwand!«, ruft Lee-shee. »Ich habe meine Töchter Mädchen Nummer eins, Mädchen Nummer zwei, Mädchen Nummer drei genannt. Meine Söhne heißen Sohn eins, Sohn zwei, Sohn drei. Die Vettern heißen Cousin sieben, acht, neun, zehn und so weiter. Wenn man sie nummeriert, weiß jeder gleich, welche Stellung das Kind in der Familie hat.«
    Was Lee-shee nicht ausspricht: Wer möchte sich groß mit Namen beschäftigen, wenn so viele Kinder sterben? Ich weiß nicht, wie viel May von der Unterhaltung mitbekommt oder wie viel sie versteht, aber als sie zu sprechen beginnt, schweigen die anderen.
    »Es gibt nur einen Namen, der für dieses Mädchen passt«, sagt May auf Englisch. »Sie soll Joy heißen, Freude. Wir sind jetzt in Amerika. Sie soll nicht mit der Vergangenheit belastet werden.«
    Als May den Kopf hebt, um zu mir aufzublicken, wird mir klar, dass sie die ganze Zeit das Kind angeschaut hat. Obwohl ich Joy in den Armen halte, hat es May geschafft, ihr körperlich näher zu sein als ich. Sie zieht sich hoch, fasst sich an den Hals und holt den kleinen Beutel mit den drei Kupfermünzen, drei Sesamsamen und drei Bohnenkernen hervor, den ihr Mama zum
Schutz gegeben hat. Ich berühre meinen Beutel, den ich noch um den Hals trage. Ich glaube nicht, dass er mich beschützt hat, aber ich trage ihn und den Jadearmreif trotzdem, als greifbare Erinnerung an meine Mutter. May streift Joy das Lederband über den Kopf und steckt ihr den Beutel in das Hemdchen.
    »Das soll dich auf all deinen Wegen schützen«, flüstert May zärtlich.
    Die Frauen um uns herum weinen über die Schönheit ihrer Worte und ihrer Geste, loben May als gute Tante, auch wenn alle wissen, dass das Geschenk Joy wieder abgenommen wird, damit es sie nicht erwürgt.
    Als die Missionarinnen kommen, weigere ich mich, ins Lagerkrankenhaus zu gehen. »Das ist in China nicht üblich«, sage ich. »Aber ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie meinem Mann ein Telegramm schicken könnten.«
    Die Nachricht ist kurz und präzise: MAY UND PEARL AUF ANGEL ISLAND. BITTEN UM REISEGELD. KIND GEBOREN. EINMONATSFEIER VORBEREITEN.
    An diesem Abend kehren die Frauen mit der Kraftbrühe für Mütter vom Essen zurück. Trotz der Proteste der um uns gescharten Frauen teile ich die Suppe mit meiner Schwester mit der Begründung, es sei für sie ebenso anstrengend gewesen wie für mich. Verständnislos schütteln sie den Kopf, aber May hat die Suppe viel nötiger als ich.
     
    Der Vorsitzende Plumb ist völlig verblüfft, als ich in einem meiner hübschesten Seidenkleider und dem Federhut zur nächsten Befragung komme. Das Handbuch, das im Futter versteckt war, haben May und ich gut auswendig gelernt. Ich spreche perfektes Englisch und habe ein mit Glücksbringern geschmücktes Baby auf dem Arm. Ich beantworte jede Frage korrekt und ohne zu zögern, in dem Wissen, dass May im anderen Raum genau das Gleiche tut. Doch das, was ich und May machen, ist bedeutungslos, ebenso wie die Frage, ob ich die Frau eines legal hier
ansässigen Kaufmanns oder eines amerikanischen Staatsbürgers bin. Was sollen die Behörden mit diesem Baby anfangen? Angel Island gehört zu den Vereinigten Staaten, der Einwanderungsstatus und die Staatsbürgerschaft werden jedoch erst anerkannt, wenn jemand die Insel verlässt. Für die Beamten ist es einfacher, uns gehen zu lassen, als sich mit den bürokratischen Problemen herumzuschlagen, die Joy mit sich bringt.
    Der Vorsitzende Plumb beendet die Befragung wie üblich mit einer Zusammenfassung, aber er ist nicht ganz glücklich mit dem Ende: »Die Bearbeitung dieses Falls hat sich über vier Monate hingezogen. Obwohl feststeht, dass diese Frau sehr wenig Zeit mit ihrem Ehemann verbracht hat, der sich als amerikanischer Staatsbürger ausgibt, hat sie in unserem Auffanglager ein Kind zur Welt gebracht. Nach reiflicher Überlegung sind wir in den wichtigsten Fragen zu einer Übereinstimmung gekommen. Daher verfüge ich, dass Louie Chin-shee als Ehefrau eines amerikanischen Staatsbürgers in die Vereinigten Staaten einreisen darf.«
    »Ich stimme zu«, sagt Mr. White.
    »Ich ebenfalls«, sagt der Protokollant. Es ist das erste und einzige Mal, dass ich ihn sprechen höre.
    Um vier Uhr am selben Nachmittag kommt der Wachmann herein und ruft zwei Namen auf: Louie Chin-shee und Louie Chin-shee

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