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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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meiner. Eine Stunde später sehe ich das Köpfchen.
    »Kannst du in die Hocke gehen?«, frage ich.
    May wimmert nur. Ich trete hinter sie und ziehe sie an die Wand, damit sie sich anlehnen kann. Dann knie ich mich zwischen ihre Beine. Ich falte die Hände und schließe die Augen, um all meinen Mut zusammenzunehmen. Dann öffne ich die Augen wieder, schaue in das gepeinigte Gesicht meiner Schwester und lege so viel Überzeugung wie möglich in meine Stimme. Ich wiederhole nur, was sie in den vergangenen Wochen selbst so oft zu mir gesagt hat: »Wir schaffen das, May. Ich weiß es.«
    Als das Kind herausrutscht, ist es nicht der Sohn, über den wir gesprochen haben. Es ist ein nasses, mit Schleim bedecktes Mädchen - meine Tochter. Sie ist winzig, noch kleiner, als ich erwartet hatte. Sie schreit nicht. Sie gibt nur schwache Laute von sich, wie ein kläglich piepsendes Vogeljunges.

    »Zeig sie mir!«
    Blinzelnd sehe ich meine Schwester an. Die Haare hängen ihr in feuchten Strähnen herunter, aber die Schmerzen sind ihr nicht mehr anzusehen. Ich reiche ihr das Baby und stehe auf.
    »Ich bin gleich wieder da«, sage ich, doch May hört mir gar nicht zu. Sie hat die Arme um die Kleine gelegt, schützt sie vor der plötzlichen kalten Luft und wischt ihr mit dem Ärmel den Schleim vom Gesicht. Ich betrachte die beiden. Sie haben nur diesen kurzen Augenblick miteinander, bevor ich das Kind als meines ausgeben muss.
    So schnell und leise es geht, eile ich zurück in den Schlafsaal. Dort hole ich eines der Hemdchen, die May und ich genäht haben, etwas Garn, eine kleine Schere, die wir von den Missionarinnen für unsere Handarbeiten bekamen, ein paar Binden und zwei Handtücher, die wir am Kiosk gekauft haben. Ich schnappe mir die Teekanne von der Heizung und eile rasch wieder zu den Duschen. Als ich dort ankomme, hat May die Nachgeburt bereits ausgestoßen. Ich binde Garn um die Nabelschnur und schneide sie ab. Dann befeuchte ich das saubere Handtuch an einem Zipfel mit warmem Wasser aus der Teekanne und reiche es May, damit sie das Baby saubermachen kann. Mit etwas Wasser und dem anderen Handtuch wasche ich May. Das Kind ist klein, daher ist May nicht so stark gerissen, verglichen mit meinen Verletzungen damals. Hoffentlich verheilt alles, ohne dass May genäht werden muss. Aber was soll ich schon tun? Ich kann nicht mal einen Saum nähen. Wie soll ich den Intimbereich meiner Schwester zusammenflicken?
    Während May die Kleine anzieht, wische ich den Boden und wickle die Nachgeburt in die Handtücher. Als alles so sauber wie möglich ist, stopfe ich die schmutzigen Sachen in den Müll.
    Draußen färbt sich der Himmel rosa. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.
    »Ich glaube, ich komme nicht allein hoch«, sagt May auf dem Boden. Ihre bleichen Beine zittern noch von der Kälte und der
Anstrengung, die sie durchgemacht hat. Sie rutscht von der Wand weg, und ich helfe ihr auf. Blut rinnt ihr die Beine hinunter und tropft auf den Boden.
    »Keine Sorge«, sagt sie. »Keine Sorge. Hier. Nimm sie mal.«
    Sie reicht mir das Baby. Ich habe vergessen, die von May gestrickte Decke mitzubringen, und die Kleine reckt unbeholfen die Arme in ihrer plötzlichen Freiheit. Ich habe sie während all der Monate nicht in mir getragen, aber ich liebe sie sofort, als wäre sie mein eigenes Kind. Ich achte kaum auf May, während sie sich einen Bindengürtel umschnallt und sich Unterwäsche und Hose anzieht.
    »Ich bin so weit«, sagt sie.
    Wir begutachten den Raum noch einmal. Es wird kein Geheimnis sein, dass hier eine Frau ihr Kind geboren hat. Aber niemand darf Verdacht schöpfen, dass dabei etwas nicht normal verlaufen ist, denn ich kann mich nicht von den Ärzten des Auffanglagers untersuchen lassen.
     
    Ich sitze aufrecht im Bett und halte meine Tochter im Arm, während May sich an mich schmiegt - sie döst, ihr Kopf ruht auf meiner Schulter. Die anderen Frauen stehen auf. Es dauert ein bisschen, bis uns jemand bemerkt.
    » Aiya! Seht mal, wer da über Nacht gekommen ist!«, kreischt Lee-shee aufgeregt.
    Die anderen Frauen und ihre kleinen Kinder versammeln sich um uns und drängeln sanft, um besser sehen zu können.
    »Dein Sohn ist da!«
    »Kein Sohn. Eine Tochter«, korrigiert May. Sie klingt so schläfrig vor Erschöpfung, dass ich kurz fürchte, sie könnte uns verraten.
    »Ein kleines Glück«, sagt Lee-shee mitleidig. Sie verwendet den traditionellen Ausdruck für die Enttäuschung über die Geburt eines Mädchens. Dann lacht sie.

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