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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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- die altmodischen Ehenamen von May und mir. » Sai gaai «, verkündet er laut, seine übliche Abkürzung des Ausdrucks, der »Viel Glück« bedeutet. Wir bekommen unsere Reiseausweise. Mir überreicht man eine amerikanische Geburtsurkunde für Joy, auf der festgehalten ist, dass sie »zu klein ist, um gemessen zu werden« -, was nur bedeutet, dass sie sich nicht die Mühe gemacht haben, sie zu untersuchen. Ich hoffe, diese Worte werden sich als nützlich erweisen, um alle Zweifel auszuräumen, die der Alte Herr Louie und Sam wegen des Geburtstermins und wegen Joys Größe bekommen könnten, wenn sie die Kleine sehen.

    Die anderen Frauen helfen uns, unsere Sachen zusammenzupacken. Lee-shee weint beim Abschied. May und ich sehen zu, wie der Wachmann den Schlafsaal hinter uns abschließt, dann folgen wir ihm aus dem Gebäude hinaus und den Weg zum Kai hinunter, wo wir unser restliches Gepäck holen und an Bord der Fähre gehen, die uns nach San Francisco bringen soll.

ZWEITER TEIL
    Glück

EIN EINZIGES REISKORN
    Für vierzehn Dollar fahren wir mit der Harvard , einem Dampfschiff, nach San Pedro. Nachdem wir auf Angel Island unsere Lektion gelernt haben, stimmen wir unsere Erklärungen sorgfältig aufeinander ab - weshalb wir vor all den Monaten das Schiff verpasst haben, wie sehr wir uns bemüht haben, China zu verlassen, um zu unseren Ehemännern zu gelangen, und wie schwierig unsere Befragungen waren. Aber wir müssen überhaupt keine Geschichten erzählen, weder wahre noch erfundene. Als Sam uns am Hafen abholt, sagt er bloß: »Wir dachten, ihr wärt tot.«
    Wir haben uns nur dreimal gesehen: in der chinesischen Altstadt, bei unserer Hochzeit und als er mir die Billets und die anderen Reiseunterlagen gebracht hat. Sam schaut mich nach diesem einen Satz wortlos an. Ich erwidere seinen Blick. May, die unsere Taschen trägt, lässt sich ein wenig zurückfallen. Das Baby schläft in meinen Armen. Ich rechne nicht mit Umarmungen oder Küssen, und ich rechne auch nicht damit, dass er Joy über Gebühr zur Kenntnis nimmt. Das wäre unangemessen. Trotzdem sind wir beide bei dieser Begegnung nach so langer Zeit sehr verlegen.
    May und ich sitzen in der Straßenbahn hinter Sam. Das hier ist keine Stadt der »magischen hohen Häuser«, wie wir sie in Shanghai hatten. Irgendwann sehe ich zu meiner Linken einen weißen Turm. Ein paar Straßen danach steht Sam auf und gibt uns ein Zeichen. Vor dem Fenster rechts ist eine riesige Baustelle. Links steht ein langer Block zweistöckiger Backsteinhäuser, auf manchen befinden sich Schilder mit chinesischen Schriftzeichen. Die Stra ßenbahn hält, wir steigen aus. Wir gehen ein Stück die Straße entlang,
bevor wir abbiegen. Auf einem Schild steht LOS ANGELES STREET. Wir überqueren die Straße, umrunden eine Plaza mit einem Musikpavillon in der Mitte, kommen an einem Feuerwehrhaus vorbei und biegen dann links in die Sanchez Alley ein, die von weiteren Backsteinhäusern gesäumt ist. Wir gehen durch eine Tür, über der GARNIER BLOCK steht, dann durch einen dunklen Gang, steigen eine alte Holztreppe hinauf und gelangen in einen muffigen Korridor, in dem es nach Küchendunst und schmutzigen Windeln riecht. Sam zögert, bevor er die Tür zu der Wohnung öffnet, in der er gemeinsam mit seinen Eltern und Vern lebt. Er dreht sich um und sieht May und mich mit einem Ausdruck an, in dem ich Mitleid lese. Dann öffnet er die Tür, und wir treten ein.
    Als Erstes fällt mir auf, wie armselig, schmutzig und schäbig alles ist. Ein mit dreckigem, malvenfarbenem Stoff bezogenes Sofa lehnt traurig an der Wand. In der Mitte des Raums befindet sich ein Tisch mit sechs schlichten, kunstlos gefertigten Holzstühlen. Gleich neben dem Tisch, nicht dezent in der Ecke, steht ein Spucknapf. Ein kurzer Blick darauf verrät, dass er in letzter Zeit nicht geleert wurde. An den Wänden hängen keine Fotos, Bilder oder Kalender. Die Fenster sind schmutzig und haben weder Vorhänge noch Jalousien. Von meinem Platz an der Tür kann ich in die Küche sehen, die aus kaum mehr als einer Arbeitsplatte mit ein paar Geräten darauf und einer Nische zur Verehrung der Ahnen der Familie Louie besteht.
    Eine kleine, rundliche Frau, die sich die Haare im Nacken zu einem Knoten zusammengesteckt hat, kommt auf uns zugeeilt und kreischt auf Sze Yup: »Willkommen! Willkommen! Ihr seid da!« Dann ruft sie nach hinten über die Schulter: »Sie sind da! Sie sind da!« Mit einem Wedeln des Handgelenks befiehlt sie Sam: »Hol den

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