Toechter Aus Shanghai
sein Kind. Damals in Shanghai, als ich mir diese ganze Vereinbarung durch
den Kopf gehen ließ, dachte ich: Wenn der Alte Herr stirbt, werde ich ein Mann vom goldenen Berg und habe viele Betriebe in meinem Besitz. Dann kam ich hierher. Am Anfang gab es Tage, da wollte ich nur nach Hause. Die Fahrt kostet bloß hundertdreißig Dollar, wenn man im Zwischendeck fährt. Ich dachte, ich könnte es schaffen, wenn ich das Trinkgeld verstecke, aber dann bist du mit Joy gekommen. Was wäre ich für ein Ehemann, wenn ich euch hier sitzen gelassen hätte? Was für ein Vater wäre ich?«
Von dem Augenblick an, als May und ich in Los Angeles eintrafen, haben wir über Fluchtmöglichkeiten nachgedacht. Hätten wir - hätte ich - nur gewusst, dass es Sam genauso ging!
»Dann dachte ich, du, Joy und ich könnten gemeinsam nach Hause zurückkehren, aber ich kann doch nicht zulassen, dass unsere Kleine im Zwischendeck fährt, oder? Sie könnte dort unten sterben.« Er drückt meine Hand. Dann schaut Sam mir direkt in die Augen, und ich wende den Blick nicht ab. »Ich bin nicht wie die anderen. Ich will nicht mehr nach China zurück. Hier muss ich jeden Tag leiden, aber für Joy ist es gut.«
»China ist unsere Heimat. Die Japaner werden irgendwann müde …«
»Was hat China Joy denn zu bieten? Was hat es uns zu bieten? Ich war Rikschafahrer in Shanghai. Du warst Kalendermädchen.«
Mir war nicht klar, dass Sam über May und mich Bescheid wusste. So wie er das ausspricht, nimmt er mir den Stolz, den ich immer für unsere Arbeit empfunden habe.
»Ich will niemanden hassen, doch mein Schicksal kann ich verabscheuen - und deines auch«, sagt er. »Wir können nicht ändern, wer wir sind oder was uns widerfahren ist, aber sollten wir nicht wenigstens versuchen, das Schicksal unserer Tochter zu beeinflussen? Welcher Weg erwartet sie in China? Hier kann ich dem Alten Herrn meine Schulden zurückzahlen, bis wir irgendwann frei sind. Dann können wir Joy ein richtiges Leben ermöglichen - ein Leben mit Chancen, die du und ich nie bekommen
werden. Vielleicht kann sie sogar eines Tages aufs College gehen.«
Sam spricht mein Mutterherz an, doch der praktische Teil in mir, der es überlebt hat, dass mein Vater alles verlor und mein Körper von den Affenmenschen zerrissen wurde, dieser Teil glaubt nicht, dass Sams Träume Wirklichkeit werden können.
»Wir schaffen es niemals, uns von diesem Ort und von diesen Leuten zu lösen«, sage ich. »Schau dich doch um! Onkel Wilburt arbeitet seit zwanzig Jahren für den Alten Herrn und hat seine Schulden immer noch nicht abbezahlt.«
»Vielleicht hat er seine Schulden längst beglichen und spart, um als wohlhabender Mann nach Hause zurückzukehren. Vielleicht ist er auch glücklich da, wo er ist. Er hat Arbeit, eine Wohnung, eine Familie, mit der er sonntags zu Abend essen kann. Du weißt nicht, wie es ist, in einem Dorf zu leben, wo es keinen Strom und kein fließend Wasser gibt. Vielleicht hat man nur einen einzigen Raum für die ganze Familie, höchstens zwei. Zu essen gibt es bloß Reis und Gemüse, außer bei Festen oder Feierlichkeiten, aber selbst dafür muss man große Opfer bringen.«
»Ich will doch nur sagen, dass einer allein es kaum schafft, für sich selbst zu sorgen! Wie willst du uns vier denn durchbringen?«
»Vier? Du meinst May.«
»Sie ist meine Schwester, und ich habe meiner Mutter versprochen, für sie zu sorgen.«
Er denkt kurz darüber nach. Dann sagt er: »Ich bin geduldig. Ich kann warten, und ich kann hart arbeiten.« Er lächelt schüchtern und fügt hinzu: »Vormittags, wenn du ins Golden Latern gehst, um Yen-yen zu helfen und Joy zu besuchen, arbeite ich im Tempel der Kwan Yin. Da verdiene ich mir etwas dazu, verkaufe den lo fan Räucherstäbchen, die sie in den großen Bronzegefä ßen verbrennen können. Ich muss dann eigentlich sagen: ›Deine Träume werden wahr, denn diese anmutige Göttin bringt unerschöpflichen Segen.‹ Aber ich bringe es einfach nicht auf Englisch
heraus. Trotzdem haben die Leute Mitleid mit mir und kaufen meine Räucherstäbchen.«
Er steht auf und geht zur Kommode. Er ist elendig mager, doch ich verstehe nicht, wie ich bislang seinen eisernen Fächer übersehen konnte. Sam sucht etwas in der obersten Schublade und kehrt mit einem Strumpf zurück, der an den Zehen ausgebeult ist. Dann dreht er den Strumpf um. Fünf-Cent-, Zehn-Cent- und Fünfundzwanzig-Cent-Münzen sowie ein paar Dollarscheine fallen auf die Matratze.
»Das habe ich
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