Toechter Aus Shanghai
gelegt. Dann habe ich seinen Platz eingenommen und schwitzend eine Rikscha gezogen. Ich war siebzehn und mein Bruder fünfzehn.«
Während Sam erzählt, denke ich daran, in wie vielen Rikschas ich gefahren bin, ohne mir je den Kopf über die Männer zu zerbrechen, die sie gezogen haben. Ich hatte die Rikschafahrer nie richtig wahrgenommen. Für mich waren sie gar keine Menschen. Ich weiß noch, dass viele von ihnen keine Hemden oder Schuhe besaßen, dass sie einen krummen Rücken und hervorstehende Schulterblätter hatten und ihnen selbst im Winter der Schweiß herunterlief.
»Bald kannte ich alle Tricks«, fährt Sam fort. »Zum Beispiel, dass es extra Trinkgeld gab, wenn ich in der Taifunzeit einen Mann oder eine Frau von meiner Rikscha bis zur Tür trug, damit sie sich die Schuhe nicht schmutzig machten. Und ich habe gelernt, mich vor Männern und Frauen zu verneigen, sie einzuladen, in meiner li-ke-xi zu fahren, Mai-da-mu für Madame zu sagen oder Mai-se-dan für Master . Ich verbarg meine Scham, wenn sie über mein schlechtes Englisch lachten. Ich habe neun Silberdollar im Monat verdient, schaffte es aber trotzdem nicht, meiner
Familie in Low Tin Geld zu schicken. Ich weiß nicht, wie es ihnen ergangen ist. Wahrscheinlich sind sie tot. Ich konnte mich nicht einmal um meinen Bruder kümmern, der gemeinsam mit anderen armen Kindern für ein paar Kupfermünzen am Tag Rikschas über die Bogenbrücken am Soochow Creek zog. Im nächsten Winter ist er an der Blutlungenkrankheit gestorben.« Sam macht eine Pause, während er an Shanghai zurückdenkt. Dann fragt er: »Hast du je das Lied der Rikschafahrer gehört?« Er wartet meine Antwort gar nicht ab, sondern beginnt zu singen:
»Wenn er Reis kauft, trägt er ihn in seiner Kappe.
Wenn er Feuerholz kauft, trägt er es in den Armen.
Er lebt in einer Hütte aus Stroh.
Der Mond ist sein einziges Licht.«
Ich erinnere mich an die Melodie, und die Straßen und Rhythmen von Shanghai kommen zu mir zurück. Sam erzählt von seiner Mühsal, und ich sehne mich nach meiner Heimat.
»Ich habe einmal Kommunisten gefahren«, fährt er fort. »Sie haben darüber geklagt, dass die Armen seit Urzeiten gedrängt wurden, sich mit ihrer Armut zufrieden zu geben. Das war kein Leben für mich. Dafür sind mein Vater und mein Bruder nicht gestorben. Ich hätte ihr Schicksal gerne geändert, aber nachdem sie nicht mehr da waren, konnte ich nur an meinen eigenen Magen denken. Ich dachte mir, wenn die Anführer der Grünen Bande als Rikschafahrer angefangen haben, warum soll ich das nicht auch können? In Low Tin habe ich keine Schule besucht. Ich war ein Bauernsohn. Doch sogar die Rikschafahrer begriffen, wie wichtig Bildung ist, und deshalb baute ihre Zunft Schulen in Shanghai. Ich habe den Wu-Dialekt gelernt. Ich habe ein wenig mehr Englisch gelernt - nicht von A bis Z, nur ein paar Wörter.«
Je mehr Sam erzählt, desto mehr öffnet sich ihm mein Herz. Als ich ihn im Yu-Yuan-Garten zum ersten Mal traf, gefiel er mir gar nicht so schlecht. Jetzt erfahre ich, wie sehr er sich angestrengt
hat, sein Leben zu ändern, und wie wenig ich bisher begriffen habe. Er spricht fließend Sze Yup und den Wu-Dialekt der Straße, während sein Englisch so gut wie nicht vorhanden ist. Er machte immer den Eindruck, als fühle er sich in seiner Kleidung nicht wohl. Ich weiß noch, dass mir bei unserer ersten Begegnung auffiel, wie neu seine Schuhe und sein Anzug waren. Es müssen die ersten gewesen sein, die er je besaß. Und dann der Rotstich in seinen Haaren, von dem ich fälschlicherweise annahm, er sei darauf zurückzuführen, dass Sam aus Amerika kam, statt darin das Anzeichen für Mangelernährung zu erkennen. Und schließlich seine Art. Er hat mich stets respektvoll behandelt, nicht als fu yen , sondern als Kundin, die zufrieden gestellt werden muss. Er hat sich immer vor dem Alten Herrn Louie und Yen-yen verbeugt - nicht weil sie seine Eltern sind, sondern weil er für sie wie ein Dienstbote ist.
»Du musst kein Mitleid mit mir haben«, sagt mein Mann. »Mein Vater wäre sowieso gestorben. Das Leben als Bauer ist hart, wenn man eine Bambusstange mit einer Last von 250 jin auf den Schultern tragen oder den ganzen Tag gebückt auf den Reisfeldern stehen muss. Alles, was ich verdient habe, kam von der Arbeit meiner Hände und Füße. Wie viele Rikschafahrer habe ich angefangen, ohne zu wissen, was ich tat, meine nackten Füße klatschten auf die Straße wie zwei Palmwedel. Ich lernte, den Bauch
Weitere Kostenlose Bücher