Toechter Aus Shanghai
hier. Mir wird übel. Trotzdem zitiere ich aus dem Handbuch: »Der Alte Herr ist dein Vater. Du wurdest in Wah Hong geboren. Du bist als Baby hierhergekommen …«
Sam schüttelt den Kopf. »Dieser Junge ist vor vielen Jahren in China gestorben. Ich bin mit seinen Papieren eingereist.«
Ich erinnere mich, wie mir der Vorsitzende Plumb das Bild eines kleinen Jungen zeigte und ich mir dachte, dass er Sam nicht allzu ähnlich sah. Warum hinterfragte ich das nicht weiter? Jetzt will ich die Wahrheit wissen. Für mich, für meine Schwester und für Joy. Und er muss mir alles erzählen - ohne sich zu verweigern und davonzuschleichen wie sonst immer. Ich benutze die Taktik, die ich durch die wochenlangen Anhörungen auf Angel Island gelernt habe.
»Erzähl mir alles über dein Dorf und deine richtige Familie.« Ich hoffe, er hört meiner zitternden Stimme nicht an, wie sehr mich das Ganze mitnimmt. Wenn er über diese angenehmeren Erinnerungen spricht, erzählt er mir vielleicht auch die Wahrheit darüber, warum er zum Papiersohn der Louies wurde. Er antwortet nicht sofort. Er sieht mich einfach nur an, wie so häufig seit dem Tag, an dem wir uns kennenlernten. Ich habe diesen Blick immer als Zuneigung gedeutet, aber vielleicht will er damit auch sein Verständnis für unsere gemeinsamen Nöte und Geheimnisse ausdrücken. Ich versuche diesen Blick zu erwidern. Das Merkwürdige daran ist, dass ich es ernst meine.
»Wir hatten einen Teich vor dem Haus«, murmelt er schließlich. »Jeder durfte dort Fische aussetzen und züchten. Man musste nur einen Topf ins Wasser tauchen, und wenn man ihn wieder
herauszog, waren Fische drin. Niemand musste dafür zahlen. Wenn der Teich austrocknete, konnte man die Fische einsammeln, die im Schlamm steckten. Auch dafür musste niemand zahlen. Auf dem Feld hinter unserem Haus haben wir Gemüse und Melonen angebaut. Jedes Jahr haben wir zwei Schweine aufgezogen. Wir waren nicht reich, aber wir waren auch nicht arm.«
Ich finde, das hört sich durchaus nach Armut an. Seine Familie musste von der Hand in den Mund leben. Sam scheint zu spüren, dass ich anderer Meinung bin, denn er fährt nur zögerlich fort.
»Als die Dürre kam, mussten mein Großvater, Vater und ich hart arbeiten. Wir wollten dem Boden einen anständigen Ertrag abringen. Mama ging in andere Dörfer, um Geld zu verdienen, pflanzte als Aushilfe Reis an oder half bei der Ernte, aber auch dort litt man unter der Dürre. Sie webte Stoff und brachte ihn zum Markt. Sie versuchte unserer Familie zu helfen, doch es reichte nicht. Man kann nicht von Luft und Sonnenschein leben. Als zwei meiner Schwestern starben, gingen mein Vater, mein zweiter Bruder und ich nach Shanghai. Wir wollten so viel verdienen, dass wir ins Dorf Low Tin zurückkehren und das Land bestellen konnten. Mama blieb mit meinem jüngsten Bruder und der kleinen Schwester zu Hause.«
In Shanghai fanden sie aber keinen Grund zur Hoffnung, sondern wieder nur Mühsal. Ohne Beziehungen bekamen sie keine Arbeit in einer Fabrik. Sams Vater verdingte sich als Rikschafahrer, während Sam, gerade zwölf geworden, und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Gelegenheitsarbeiten verrichteten. Sam verkaufte Streichhölzer an der Straßenecke, sein Bruder rannte Kohlenlastern hinterher, um die Brocken, die von der Ladefläche fielen, an die Armen zu verkaufen. Im Sommer aßen sie Wassermelonenschalen, die sie aus dem Müll klaubten, und im Winter mit Wasser verdünnten jook .
»Mein Vater hat gezogen und gezogen«, fährt Sam fort. »Zuerst hat er Tee mit zwei Stück Zucker getrunken, um Kraft zu
gewinnen und sich abzukühlen. Als ihm das Geld ausging, konnte er sich nur noch billigen Tee aus Staub und Stielen und keinen Zucker mehr leisten. Wie viele andere Rikschafahrer fing er an, Opium zu rauchen. Kein echtes Opium! Das konnte er sich nicht leisten! Und es ging ihm auch nicht um den Genuss. Er brauchte es zur Stimulation, damit er die Rikschas ziehen konnte, wenn es besonders heiß war oder der Taifun blies. Er kaufte die Reste, die von den Reichen übrig gelassen und von deren Dienern verkauft wurden. Das Opium verlieh meinem Vater vermeintlich neuen Elan, aber es zehrte an seiner Kraft, und sein Herz schrumpfte. Bald hustete er Blut. Es heißt ja, kein Rikschafahrer erreicht das Alter von fünfzig Jahren, und die meisten haben mit dreißig ihre besten Tage hinter sich. Mein Vater starb mit fünfunddreißig. Ich habe ihn in eine Strohmatte gewickelt und hinaus auf die Straße
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