Töchter Der Finsternis
dachte sie. Und keine große, blonde Raubkatze, die denkt, sie kann die Freunde für ihre Schwestern auswählen.
Es war sowieso ein müßiger Gedanke. Jeremy ging nicht mit Mädchen aus. Er war ein Einzelgänger.
„Soll ich mal unter die Motorhaube schauen?" Er wischte sich die Hände an einem Lappen ab.
„Nein, danke. Ich hab erst letzte Woche alles überprüft." Mary-Lynnette begann, Benzin einzufüllen.
Er nahm einen Schieber und eine Wasserflasche und begann, die Windschutzscheibe zu waschen. Seine Bewegungen waren flink und sanft, und sein Gesicht war ganz ernst.
Mary-Lynnette musste selbst ein Kichern unterdrücken, aber sie rechnete es ihm hoch an, dass er nicht über die Sprünge im Glas und die völlig abgenutzten Scheibenwischer lachte. Sie hatte immer eine seltsame Seelenverwandtschaft zu Jeremy gefühlt. Er war der einzige Mensch in Briar Creek, der sich auch ein bisschen für Astronomie interessierte. In der achten Klasse hatte er ihr geholfen, ein Modell des Sonnensystems zu bauen, und natürlich hatte er die Mondfinsternis zusammen mit ihr beobachtet.
Seine Eltern waren in Medford gestorben, als er noch ein Baby war, und sein Onkel hatte ihn in seinem Wohnwagen nach Briar Creek gebracht. Der Onkel war seltsam gewesen. Er wanderte immer in der Wildnis von Klamath herum und suchte nach Gold. Eines Tages war er nicht wiedergekommen.
Danach hatte Jeremy allein in dem Wohnwagen im Wald gelebt. Um Geld zu verdienen, nahm er Aushilfsjobs an und arbeitete an der Tankstelle. Wenn seine Klamotten nicht so cool waren wie die der anderen Kids, dann war es ihm egal, oder er zeigte es nicht.
Der Stutzen des Benzinschlauchs in Mary-Lynnettes Hand klickte. Sie merkte, dass sie mit offenen Augen träumte.
„Sonst noch was?" fragte Jeremy. Die Windschutzscheibe war sauber.
„Nein. Doch. Du hast heute nicht zufällig Todd oder Vic gesehen?"
Jeremy, der gerade ihren Zwanzigdollarschein nahm, hielt inne. „Warum?"
„Ich möchte nur mit ihnen reden", antwortete sie und spürte, wie sie rot wurde. Oh, Gott, hoffentlich denkt er nicht, ich will mich mit Todd oder Vic verabreden, und er hält mich für verrückt, weil ich ausgerechnet ihn danach frage, dachte sie.
„Bunny meinte, sie könnten in der Schlucht sein, deshalb dachte ich, du hättest sie gesehen, heute Morgen vielleicht, weil du doch hier in der Gegend wohnst...", erklärte sie hastig.
Jeremy schüttelte den Kopf. „Ich bin gegen Mittag aus dem Wohnwagen gegangen, aber ich habe heute Morgen aus der Schlucht keine Schüsse gehört. Eigentlich glaube ich auch nicht, dass sie in diesem Sommer schon einmal unten waren. Ich warne sie jedenfalls dauernd, sich von dort fern zu halten."
Er sprach ruhig und ohne besonderen Nachdruck, aber Mary-Lynnette hatte plötzlich das Gefühl, dass selbst Todd und Vic vielleicht auf ihn hörten. Sie hatte noch nie gehört, dass Jeremy mal in eine Prügelei verwickelt gewesen wäre. Aber manchmal trat ein Blick in seine braunen Augen, der fast Furcht einflößend war. Als ob etwas unter der Oberfläche des netten Jungen schlummerte - etwas Primitives und Tödliches, das eine Menge Schaden anrichten konnte, wenn es geweckt wurde.
„Mary-Lynnette, ich weiß, es geht mich nichts an, aber du solltest dich von den beiden fern halten. Wenn du sie wirklich finden musst, dann lass mich mitkommen."
Oh. Sie fühlte warme Dankbarkeit in sich aufsteigen. Sie würde sein Angebot nicht annehmen, aber es war nett von ihm, es gemacht zu haben.
„Danke", sagte sie. .Aber ich komm schon zurecht. Noch mal danke."
Sie sah ihm nach, während er zur Kasse ging, um das Wechselgeld zu holen. Wie musste es wohl sein, wenn man allein war, seit man zwölf Jahre alt war? Vielleicht brauchte er Hilfe.
Vielleicht sollte sie Dad bitten, ihm ein paar Jobs in Haus und Garten anzubieten. Jeremy machte das ja auch für alle anderen. Sie musste nur vorsichtig sein, denn sie wusste, er hasste alles, was irgendwie nach milden Gaben roch.
Er kam mit dem Wechselgeld zurück. „Bitte schön. Und, Mary-Lynnette ..."
Sie sah hoch.
„Wenn du Todd und Vic findest, dann sei bitte sehr vorsichtig."
„Ich weiß."
„Ich meine es ernst."
„Das wei3 ich auch." Sie griff nach dem Geld, aber er wollte es nicht loslassen. Stattdessen tat er etwas Seltsames. Er öffnete ihre geschlossenen Finger mit der einen Hand, während er ihr mit der anderen die Scheine gab. Dann schloss er ihre Finger über dem Geld. Im Grunde hielt er ihre Hand.
Diese
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