Töchter des Mondes - Sternenfluch (German Edition)
hierhergebracht wurden.
»Nun, er ist nicht der Einzige, der regelmäßig zur Untersuchung vorbeikommt. Die Vorsteherin davor wollte es beenden, wissen Sie, und hat deswegen ihre Anstellung verloren. Es ist besser, sich nicht einzumischen.«
Ich zucke zusammen, als sich auf einmal scharfe Fingernägel in mein Handgelenk krallen.
»Sarah Mae«, schimpft die Krankenschwester. Ein sommersprossiges Mädchen, kaum älter als dreizehn Jahre, starrt mich mit zusammengekniffenen grünen Augen an. Der Saum ihres Kleides ist voller Matsch, und ihr Gesicht ist dreckverschmiert. Das braune Haar ist voller Blätter. »Sieh dich nur an. Was hast du auf deinem Gesundheitsspaziergang bloß schon wieder gemacht?«
»Ich habe eine Beerdigung geleitet«, sagt sie. »Beten Sie mit mir, Schwester?«
»Äh … sicher. Ich …«
Doch die Krankenschwester sieht sie missbilligend an. »Na, aber nicht in diesem schändlichen Zustand, Fräulein! Nur saubere Mädchen dürfen mit der netten Schwester reden«, erklärt sie, während sie mich auch schon die Reihe weiter drängt. »Die liebt Tiere. Vergräbt tote Vögel, wenn sie welche findet. Richtig unheimlich.«
Auf einmal gibt es lautes Geschrei, als die Tür aufgeht und die Vorsteherin mit einem Teewagen hereinkommt. »Teestunde, Mädchen!«, verkündet sie lächelnd. »Stellt euch auf!«
Mehrere junge Frauen stürzen nach vorn.
»Sie müssen ja am Verhungern sein.« Dabei ist doch gar nichts zu essen auf dem Wagen.
Die Krankenschwester schüttelt den grauen Lockenkopf. »Sie bekommen zwei Mahlzeiten am Tag, Haferbrei zum Frühstück und ein warmes Abendessen. Was diese Mädchen wollen, ist ihr Tee.« Ich ziehe die Augenbrauen hoch, und sie lacht wieder leise in sich hinein. »Manche kriegen ’nen richtigen Tatterich ohne.«
»Verstehe.« Die Mädchen nehmen sich alle eine Tasse und halten sie der Vorsteherin hin, damit sie gefüllt wird – nicht aus einer Teekanne, sondern aus einer großen, dampfenden Suppenterrine. Manche wölben die Hände um die warme Tasse und sehen erst für einen Augenblick apathisch hinein, während andere sofort gierig zu schlürfen beginnen. Die Vorsteherin und die dünne dunkelhaarige Krankenschwester beäugen die Mädchen.
»Trink aus, Mercedes«, schilt die Vorsteherin, und die junge Frau setzt gehorsam die Tasse an und schluckt.
»Wenn wir nicht aufpassen, versuchen manche, den Tee anderen zu geben oder ihn in den Nachttopf zu schütten«, erklärt die Krankenschwester. »Hinterlistige Biester.«
Während sie fortfährt, über diese und jene Patientin zu lästern, beobachte ich die Mädchen am Ende der Reihe. Ein paar versuchen, sich irgendwie davor zu drücken, den Tee zu trinken, doch vergeblich. Eine Frau lässt ihre Tasse zu Boden fallen, woraufhin die Vorsteherin sie ohrfeigt und ihr eine neue Tasse gibt. Ein kleines blondes Mädchen hält zwar seine Tasse in den Händen, weigert sich aber zu trinken und starrt nur vor sich hin, als die Vorsteherin es ermahnt, keinen Ärger zu machen. Schließlich nickt die Vorsteherin der dünnen Krankenschwester zu, die daraufhin dem Mädchen die Nase zuhält. Als das Mädchen nach Luft schnappt, gießt ihm die Vorsteherin den Tee einfach in den Mund. Das Mädchen würgt und hustet – und schluckt.
»Wir müssen weiter zum nächsten Saal«, ruft Schwester Sophia, die bereits in der Tür steht.
Ich sehe mich noch einmal um und präge mir das Elend ein. Und dann mache ich mir selbst ein Versprechen. Ich werde diesen Mädchen helfen. Sie werden nicht für den Rest ihres Lebens hierbleiben – dafür werde ich sorgen.
Auf dem Flur fasst Schwester Sophia mich am Ellenbogen. »Ist alles in Ordnung?«, fragt sie, und ich nicke. Ob mir anzusehen ist, wie entsetzt ich bin? »Ich gehe mit Pearl und Addie ins Krankenzimmer im Erdgeschoss. Wie wäre es, wenn du mit Mei in den ersten Stock gehst, und wir treffen uns dann später unten? Mei kann den Nordflügel übernehmen, und du gehst in den Südflügel.«
Mir schwirren so viele Fragen durch den Kopf. Woran soll ich Zara erkennen? Wird sie mich erkennen? Sie muss ja noch einigermaßen bei Verstand sein, schließlich hat sie mir erst diesen Herbst jenen Brief geschrieben, in dem sie mich gedrängt hat, das Tagebuch meiner Mutter zu suchen. Wie stark steht sie wohl unter dem Einfluss von Medikamenten? Kann sie überhaupt klar genug denken, um uns zu helfen, selbst wenn sie es wollte?
Gleich hinter der Tür zum Südflügel sitzt eine große, derbe Krankenschwester
Weitere Kostenlose Bücher