Töchter des Mondes - Sternenfluch (German Edition)
kleinen Mädchen herzujagen, die Finns unordentliche Haare und meine Vorliebe, auf Bäume zu klettern, geerbt haben. Ich stelle mir vor, wie wir uns abends alle zusammen aufs Sofa kuscheln, während Finn uns Piratengeschichten vorliest. Meine Töchter wären vielleicht Hexen, aber wenn die Schwesternschaft Neuengland regierte, müssten sie keine Angst davor haben, entdeckt zu werden. Sie könnten lernen, ihre Magie weise zu handhaben, statt sie zu fürchten und sich dafür zu schämen.
Sie könnte eine Gabe sein, kein Fluch.
Vielleicht kann ich ihnen dieses Geschenk ja machen.
Kapitel 13
Am nächsten Morgen hat Tess wieder eine Vorhersehung.
Sie, Mei und ich sind im Salon, als es passiert. Ich liege auf dem dünnen braunen Teppich vor dem Feuer und lese in Tess’ Exemplar der Metamorphosen . Ich habe die Geschichten alle schon einmal von Vater gehört, aber ich will sie selbst lesen, denn es sind Finns Lieblingsgeschichten. Tess wiederholt gerade ein chinesisches Wort und beugt sich auf dem Sofa vor, um ihre Teetasse zu nehmen, doch im nächsten Moment entgleitet sie ihr auch schon. Ihre grauen Augen sind plötzlich ganz entrückt, und der Tee läuft über den Tisch und tropft auf Tess’ blattgrünen Rock.
»Tess?« Ich werfe das Buch zur Seite und krabble zu ihr.
Mei ist sofort aufgesprungen und wischt mit ihrem ausgeblichenen gelben Taschentuch den Tee auf. Tess sitzt einfach nur da und starrt ins Leere, bis Mei sie am Arm schüttelt. »Tess?«
»Tut mir leid«, keucht sie, als sie wieder zu sich kommt. »Mir war einen Augenblick ganz schwarz vor Augen.«
Mei legt ihr die Hand auf die Stirn. »Fieber hast du keins.«
Ich hebe die angeschlagene Tasse auf und suche nach einer vernünftigen Ausrede. »Sind es deine monatlichen Beschwerden?«
Tess läuft knallrot an. »Vielleicht«, quiekt sie.
»Möchtest du hochgehen und dich hinlegen? Ich bringe dir eine Wärmflasche für den Rücken«, schlage ich vor.
»Geht nur. Ich bringe das hier in Ordnung«, bietet Mei an.
»Danke.« Ich werfe ihr noch mein Taschentuch zu, dann begleite ich Tess hinaus auf den Flur.
Wir sagen nichts, bis wir das Zimmer erreichen, das sie sich mit Maura teilt und das sich weit entfernt von meinem am entgegensetzten Endes des Flures befindet. Mauras Strümpfe liegen überall herum, und ein spitzenbesetzter blauer Unterrock hängt über einem Stuhl vor dem Frisiertisch. Tess hat sich das Bett vor dem Fenster ausgesucht und die Vorhänge aufgehängt, die Mrs O’Hare ihr vor Jahren genäht hat. Auf dem Fensterbrett steht eine Fotografie von Mutter und Vater, und ihr einäugiger Teddybär Zyklop hat einen Ehrenplatz auf ihrem Kopfkissen.
»Es geht mir gut«, sagt sie, sobald die Tür hinter uns geschlossen ist. »Du brauchst dich gar nicht aufzuregen.«
»Du hattest wieder ein Vorhersehung, oder?« Sie drückt sich die Fingerspitzen an die Schläfen.
»Ja. Machst du mir mal die Knöpfe auf?« Meine Finger arbeiten sich flink die Reihe von Knöpfen an ihrem Rücken hinunter, während ich darauf warte, dass sie sich ausführlicher äußert. Doch Tess seufzt nur, als sie sich das mit Tee getränkte Kleid auszieht. »Ich spüre, dass du mich anstarrst.«
Ich versuche, meine wachsende Neugier im Zaum zu halten. Ihre Zurückhaltung muss nicht zwangsläufig etwas Schlimmes bedeuten; sie wird in die Geheimnisse einer Menge Leute eingeweiht sein, und vielleicht handelte die Vision gerade von etwas, was mich einfach nichts angeht. Ich würde ja auch nicht wollen, dass sie allen erzählt, dass sie gesehen hat, wie Finn und ich uns küssen.
Tess wird in einem Monat dreizehn. Unter Elenas Anleitung ist sie zu einer richtigen jungen Dame geworden, die ein Mieder und einen Unterrock trägt und sich die Haare hochsteckt. Als sie sich ihr rotkariertes Kleid über den Kopf zieht, fallen mir ihre neuen Kurven auf. Sie wird eine üppige Figur bekommen wie Maura und Mutter und nicht so dürr bleiben wie ich.
»Ich will dich am Montag nach Harwood begleiten und Zara besuchen«, sagt sie.
Ich schließe die Knöpfe, an die sie nicht herankommt, und binde die schwarze Schärpe um ihre Taille. »Ich möchte nicht, dass du auch nur einen Fuß dort hineinsetzt.«
Sie dreht sich herum und sieht mich an. »Ich dachte, du wolltest mich nicht mehr herumkommandieren?«
Ja, das habe ich gesagt. Doch alte Gewohnheiten sind schwer abzulegen. »In Ordnung. Wir fragen Schwester Sophia. Aber du musst mir versprechen, die ganze Zeit bei mir zu bleiben. Du bist
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