Töchter des Schweigens
wandte sich an ihre Freundinnen.
»Ich habe euch etwas zu sagen, Mädels. Ich möchte niemanden beunruhigen, aber ich habe nachgedacht und muss mit euch darüber sprechen. Ihr alle wisst, was Lenas Tod bedeutet, und dass der Polizei nichts Besseres einfällt, als mich für ihre Mörderin zu halten. Mit den ›Beweisen‹, die sie haben« – ihre Finger zeichnen zwei Anführungszeichen in die Luft –, »werden sie nicht weit kommen, aber sie sind auf der Suche nach einem Motiv. Sie glauben, dass nur jemand, der Lena sehr nahestand, sie getötet haben kann, und da es so jemanden aktuell nicht gibt, muss es sich logischerweise um eine Person aus ihrer Vergangenheit handeln. Ist es nicht so, Tere?« Teresa nickt. »Wir alle wissen, dass es in unserer Vergangenheit etwas gibt, das nicht ans Licht kommen darf.« Jede der Frauen richtet den Blick auf irgendeinen Punkt: die Decke, den Tisch, ihre Schuhe … »Ich habe nie geredet, und ihr habt sicher auch alle den Mund gehalten. Hast du deinem Mann je davon erzählt, Ana?« Ana wehrt erschrocken ab. »Gut. Aber wenn sie mich weiter unter Druck setzen und vor allem, wenn sie mich anklagen sollten, wird mir früher oder später nichts anderes übrig bleiben, als ihnen zu erzählen …« – alle halten den Atem an –, »… was mit Mati passiert ist. Dieser Stachel steckt seit dreiunddreißig Jahren in uns. Wir haben alle geglaubt, wir hätten es hinter uns gelassen, aber ist es einer von euch gelungen, es wirklich zu vergessen?« Kopfschütteln, Seufzer, Schulterzucken. »Wir sind alle erschöpft von dieser gemeinsamen Last und wissen doch ganz genau, dass es nur eine von uns getan haben kann. Und dass wir ihr seinerzeit dankbar waren, das lässt sich nicht leugnen. Aber was machen wir jetzt? Fasst sich diejenige ein Herz und gesteht, jetzt, da wir unter uns sind?«
»Mord verjährt nicht«, sagt Candela unwirsch.
»Ich weiß. Aber wenn es Lena war, kann sie niemand mehr bestrafen.«
Fünf ungläubige Augenpaare richten sich auf sie.
»Mir ist vollkommen klar, dass Lena die am wenigsten Verdächtige von uns ist, verdammt noch mal! Das ist eine Hypothese.«
»Das wäre perfekt, wenn Lena tatsächlich Selbstmord begangen hätte«, sagt Teresa. »Die über dreißig Jahre auf ihr lastende Schuld und so. In einem Film wäre das plausibel.«
Rita glaubt, aus diesen Worten einen Vorwurf herauszuhören, als sei Teresa der Meinung, Rita nähme die Sache zu spielerisch, wie eine simple, erfundene Drehbuchstory.
»Und wer sagt, dass Lena nicht tatsächlich Selbstmord begangen hat und anschließend jemand die Klinge entfernt und den Zigarettenstummel dort deponiert hat, um den Verdacht auf mich zu lenken? Lasst mich ausreden. Wenn Lena sich wirklich umgebracht hat – oder wir die Polizei davon überzeugen können –, dann besteht das einzige Verbrechen darin, eine Spur vertuscht und eine falsche gelegt zu haben, um mich zu belasten. Eine solche Anklage ist wesentlich besser als eine wegen Mordes, meint ihr nicht? Und außerdem würde ich die Person, die diese Dummheit gemacht hat, nicht anzeigen. Ganz gleich, wer es ist.«
Es vergehen einige Sekunden in absoluter Stille, während sie darüber nachdenken, was Rita ihnen gerade vorgeschlagen hat, Rita, die schon immer am besten lügen konnte, die die größte Erfindungsgabe besitzt.
»Und wem hängen wir das an?«, fragt Carmen, die entgegen ihrer guten Vorsätze schon beim dritten Bier ist.
»Manolo«, sagt Candela entschieden.
»Manolooo?«, entgegnen die anderen im Chor.
»Er ist der Einzige, der blöd genug ist, um so etwas wirklich zu tun. Ich versuche nicht, ihm den Mord in die Schuhe zu schieben. Stellt euch mal vor, dass er bei Lena war, kurz bevor Rita kam. Er wusste ja, dass sie an diesem Abend dort zum Essen sein würde, und wollte sich vielleicht selbst dazu einladen. Aber als er eintrifft, hat Lena sich umgebracht, Manolo bekommt es mit der Angst zu tun und beschließt, sich aus dem Staub zu machen, ohne jemandem etwas zu sagen, doch im letzten Moment greift er in die Tasche seines italienischen Jacketts, findet Ritas Zigarette, die er gelöscht und automatisch eingesteckt hat, als er keinen Mülleimer fand, und seinem bekanntermaßen genialen Hirn kommt die Idee, damit etwas Verwirrung zu stiften, Rita ein wenig leiden zu lassen, um ihr dann beizustehen und ihr seinen Schutz anzutragen wie ein fahrender Ritter. Oder hat er dir vorhin in der Leichenhalle etwa nicht gesagt, in diesem Dorf sei er wer und
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