Töchter des Windes: Roman (German Edition)
Gray, daß es möglich war. Der Killer war nicht wahnsinnig, sondern von kaltblütigem, klarem Verstand. Er war schlicht und einfach das, was man als ›schlecht‹ bezeichnete.
Gray wußte bereits genau, wie die letzte Verfolgungsjagd vonstatten gehen würde, er hatte bereits jeden Schritt und jedes Wort im Kopf. Im Regen, in der Dunkelheit, inmitten der windumtosten Ruine, in der bereits Blut vergossen worden war. Er wußte, während eines kurzen Augenblicks sähe der Held seine eigenen dunkelsten Seiten im Spiegel des Mannes, dem er auf den Fersen war.
Es ginge nicht nur um Richtig gegen Falsch, um Gut gegen
Böse in diesem letzten Gefecht. Dort oben, über dem regennassen, sturmgepeitschten Abgrund, würde mit aller Verzweiflung um Erlösung gekämpft. Doch das würde noch nicht das Ende der Geschichte sein. Und genau der Gedanke an das unbekannte Ende machte Gray nervös. Fast von Anfang an hatte er sich vorgestellt, daß der Held das Dorf und die Frau verlassen würde, denn die Gewalt, die den einst so ruhigen Flecken erschüttert hatte, und das, was zwischen ihnen beiden geschehen war, hatten ihm das Bleiben unmöglich gemacht.
Trotz ihrer Liebe würden sie wieder getrennte Wege gehen, denn er hatte sie als zwei dynamische, gegensätzliche Kräfte kreiert, voneinander angezogen, gewiß, aber niemals für die Ewigkeit.
Nun allerdings erschien ihm dieses Ende weniger klar. Er fragte sich, wohin der Held gehen würde, und weshalb. Weshalb sich die Frau, wie er es geplant hatte, langsam umdrehen und zur Tür ihres Cottages gehen sollte, ohne sich noch einmal umzusehen.
Er hatte gedacht, es entspräche ihren Charakteren, hatte gedacht, mit diesem Ende würde er zufrieden sein. Aber je näher er dem Augenblick der Trennung der beiden kam, um so unbefriedigender erschien ihm ein solcher Schluß.
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah sich verwirrt in seinem Zimmer um. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war oder wie lange die Arbeit ihn gefesselt hatte. Eins allerdings war klar — er hatte einen Punkt erreicht, an dem er nicht mehr weiterkam.
Er brauchte einen Spaziergang, dachte er, egal ob es regnete oder nicht. Außerdem wäre es besser, wenn er das letzte Kapitel seines Buchs nicht plante, sondern es sich zu gegebener Zeit von allein entwickeln ließ.
Auf dem Weg die Treppe hinunter wunderte er sich über die Ruhe im Haus, doch dann fiel ihm ein, daß die Familie aus Schottland abgereist war. Als er seine Höhle einmal lange
genug verlassen hatte, um den Leuten zu begegnen, hatte er amüsiert den Wettstreit der beiden Jungen um Briannas Aufmerksamkeit verfolgt.
Der ihm durchaus verständlich gewesen war.
Als er Briannas Stimme vernahm, wandte er sich der Küche zu.
»Guten Tag, Kenny Feeney. Bist du mal wieder bei deiner Großmutter zu Besuch?«
»Das bin ich, Miss Concannon. Zwei Wochen lang.«
»Schön, dich wieder hier zu sehen. Wie groß du geworden bist. Wie wär’s mit einem Stück Kuchen und einer Tasse Tee?«
»Sehr gern.«
Gray beobachtete, wie ein vielleicht zwölfjähriger Junge mit einem schiefen Grinsen aus dem Regen in die Küche trat. In den Händen hatte er ein großes, in Zeitungspapier gewickeltes Paket. »Gran schickt Ihnen eine Lammkeule, Miss Concannon. Wir haben heute morgen frisch geschlachtet.«
»Oh, das ist aber nett von ihr.« Während Brianna ihm das grausige Paket mit unübersehbarer Freude aus den Händen nahm, spürte Gray — Verfasser blutrünstiger Thriller —, wie sich sein Magen zusammenzog.
»Ich habe einen Rosinenkuchen hier. Du ißt doch sicher ein Stück, oder? Und dann nimmst du den Rest deiner Großmutter mit.«
»Gerne.« Höflich zog der Junge seine Gummistiefel aus und hängte seinen Regenmantel und seine Kappe an der Garderobe auf. Dann erblickte er Gray. »Guten Tag«, grüßte er.
»Oh, Gray, ich habe dich gar nicht kommen gehört. Dies ist Kenny Feeney, der Enkel von Alice und Peter Feeney, denen die Farm unten an der Straße gehört. Kenny, das ist Grayson Thane, ein Gast.«
»Der Ami«, sagte Kenny und gab Gray mit ernster Miene die Hand. »Meine Gran sagt, Sie schreiben Bücher, in denen es um Mord und Totschlag geht.«
»Das stimmt. Liest du gern?«
»Ich mag Bücher über Autos und Sport. Vielleicht könnten Sie ja mal ein Buch schreiben, in dem es um Football geht?«
»Ich werde darüber nachdenken.«
»Ißt du auch ein Stück Kuchen, Gray?« fragte Brianna, während sie den Rosinenkuchen in Scheiben schnitt. »Oder
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