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Tödlich ist die Nacht

Tödlich ist die Nacht

Titel: Tödlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T Hoag
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Hörst du mich?«
    Das Walkie-Talkie knisterte, die Worte drangen an Jaces Ohr. Er erschrak nicht einmal. Es war, als habe er unwillkürlich die Stimme seines Bruders herbeigezaubert.
    »Ranger, hast du verstanden? Kommen, Jace. Sei da, bitte.«
    Er konnte die Besorgnis, die Unsicherheit in Tylers Stimme hören. Aber er antwortete nicht. Er konnte nicht. Was sollte er Tyler sagen, nachdem er ihrer beider Leben so verpfuscht hatte?
    Er presste nur seine Lider aufeinander und flüsterte: »Es tut mir Leid. Es tut mir so furchtbar Leid.«

43
    Tyler steckte das Walkie-Talkie zurück in seinen Rucksack und kämpfte gegen die Tränen an. Er überlegte, ob er einen Müsliriegel herausnehmen und essen sollte, um sich abzulenken. Es war ohnehin Abendessenszeit. Aber allein die Vorstellung, etwas zu sich zu nehmen, verursachte ihm Übelkeit, also ließ er es bleiben.
    Er ging zurück in die Bibliothek, die fast während des ganzen Tages seine Operationsbasis gewesen war. Es beruhigte ihn irgendwie, sich in diesem großen, mächtigen, schönen Gebäude aufzuhalten, das angefüllt war mit Dingen, die er liebte, mit Büchern. All das Wissen und die Weisheit, all die Leidenschaft und die Geheimnisse um ihn herum waren sein um den geringen Preis, die Worte lesen zu müssen.
    Aber mittlerweile war er ziemlich müde, und er hatte immer noch keinen Plan, der nicht auf übermenschlichen Kräften beruhte, wie sie Spiderman hatte. Und er bezweifelte, dass es auch nur ein Buch in diesem Gebäude gab, in dem stand, was er als Nächstes tun sollte. Wenn er nur mit Jace sprechen könnte, war sein einziger Gedanke, aber Jace antwortete ihm nicht, schon den ganzen Tag lang nicht, und das machte ihm Angst.
    Warum hatte Jace das Walkie-Talkie überhaupt mitgenommen, wenn er es doch nicht benutzen wollte? Und wenn er nicht antwortete, bedeutete das, dass er außer Reichweite war oder dass die Batterien leer waren? Oder bedeutete es, dass er nicht antworten konnte ? Und wenn er nicht antworten konnte, dann weil er im Gefängnis war oder in einem Krankenhaus, möglicherweise mit einer Schussverletzung, oder weil er tot war?
    Vielleicht war er ja auch einfach abgehauen – weg aus L.A., nach Mexiko oder irgendwo anders hin – und Tyler würde ihn nie mehr wiedersehen. So war es gewesen, als ihre Mutter starb. Sie war gemeinsam mit Jace zur Tür hinaus, um ins Krankenhaus zu fahren, und war nie zurückgekehrt. Kein »Auf Wiedersehen«, kein »Ich liebe dich«, kein »Du wirst mir fehlen«. Einfach weg.
    Dieses schreckliche Gefühl der Leere überkam ihn tief aus seinem Inneren, wie ein riesiger Schlund, der sich öffnete, um ihn als Ganzes zu verschlucken. Tyler zog die Beine an und umklammerte seine Knie, hielt sich ganz fest, als ihm erneut die Tränen in die Augen stiegen.
    Jace sagte ihm immer, er belaste sich unnötig. Das stimmte nicht, dachte Tyler, warum sollte er denn dann die Last mit sich herumschleppen und nicht einfach ablegen, wenn sie tatsächlich unnötig wäre?
    Er hatte gedacht, er könnte Jace an einem der Plätze finden, wo sich die Kuriere herumtrieben, soweit er wusste.
    Jace erzählte ihm nie etwas, aber Tyler hatte schon vor langer Zeit im Internet alles über die Fahrradkuriere, die in Downtown arbeiteten, nachgelesen. Er wusste, dass es ungefähr hundert Kuriere gab, die für ungefähr fünfzehn verschiedene Kurierdienste arbeiteten. Er wusste, dass die Kunden einen Kilometertarif und eventuell noch einen Zeitzuschlag zahlen mussten. Er kannte den Unterschied zwischen W- 4 (wenn einem die Steuern vom Lohn abgezogen wurden) und 1099 (wenn man ein selbstständig Beschäftigter war).
    Tyler wusste auch, dass sich die Kuriere, wenn sie gerade keinen Auftrag hatten, an bestimmten Plätzen trafen. Daher war er zur Spring Street Station in Chinatown gegangen, hatte die Gold Line zur Union Station genommen, war dort in die Red Line umgestiegen, am Pershing Square ausgestiegen und zu Fuß die Fifth Street bis zur Ecke Fifth und Flower gegangen.
    Ein paar Kuriere lungerten vor der Bibliothek herum, aber von Jace weit und breit keine Spur. Er ging ins Carl's Jr. auf der anderen Straßenseite und stieß dort auf eine Menge merkwürdig aussehender Leute – ein kahlköpfiger Typ, dessen Schädel komplett tätowiert war, Gothic-Leute, die überall Piercings hatten, grüne Haare, pinkfarbene Haare, Dreadlocks – , aber kein Jace.
    Tyler war vor dem Westin Bonaventure Hotel an der Ecke Fourth und Flower auf und ab gelaufen und hatte

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