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Tödlich ist die Nacht

Tödlich ist die Nacht

Titel: Tödlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T Hoag
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über die Straße gesehen, wo die Kuriere sich unter der Brücke trafen, aber er hatte Angst, hinüberzugehen und sie zu fragen, ob sie seinen Bruder gesehen hatten – er hatte Angst um sich selbst, weil sie ein bisschen unheimlich wirkten, und er hatte Angst, dass er Jace noch tiefer reinreiten könnte, wenn er der falschen Person die falsche Frage stellte. Vielleicht würde ihn derjenige an die Polizei verpfeifen oder so.
    Und wäre Jace dort drüben gewesen und hätte nur einmal zum Hotel geblickt, dann hätte er ganz bestimmt gesehen, dass Tyler davor auf und ab ging. Niemand sprach ihn an, außer einem Türsteher des Hotels, dem er verdächtig vorkam. Tyler hatte sich schnell davongemacht.
    Den ganzen Nachmittag über war er immer wieder zwischen den Treffpunkten der Kuriere und der Bibliothek hin und her gependelt, und jedes Mal dachte er, er würde endlich Jace sehen, aber er sah ihn nie. Immer wieder hatte er versucht, ihn mit dem Walkie-Talkie zu erreichen, aber er erreichte ihn nie. Jetzt war es dunkel, und er hatte Angst, erneut zur Fourth Street zu gehen.
    Tagsüber war viel los in Downtown, aber wenn die Leute aus den Bürotürmen nach Hause gegangen waren, waren diejenigen, die sich noch auf den Straßen herumtrieben, ein bisschen seltsam
    - verrückt, auf Drogen, auf Ärger aus. Nicht der richtige Ort jedenfalls, an dem ein kleiner Junge allein herumlaufen sollte.
    Madame Chen würde sich bestimmt Sorgen um ihn machen. Große Sorgen. Bei dem Gedanken überfielen ihn schreckliche Schuldgefühle. Er war einige Male nah dran gewesen, sie anzurufen, aber er hatte nicht gewusst, was genau er ihr sagen sollte. Er wusste es immer noch nicht. Er wusste nicht, was er als Nächstes tun würde.
    Er hatte Angst, dass die Detectives das Telefon der Chens angezapft hatten und dass ihn die Cops aufspüren würden, wenn er sich bei ihr meldete. Schlimmer noch, er hatte Angst, dass man die Chens verhaften würde, weil sie einem Flüchtigen Unterschlupf gewährt hatten oder etwas in der Art. Vielleicht wurde auch der Fischmarkt überwacht, und die Cops würden ihn sehen, wenn er versuchte, dorthin zurückzugehen.
    Tyler setzte sich auf eine Bank neben den Toiletten. Die Bibliothek schloss um acht ihre Pforten. Wenn er ein gutes Versteck fände, könnte er hier wahrscheinlich die Nacht verbringen. Aber in dem Gebäude hatte er keinen Empfang und was, wenn Jace versuchte, ihn zu erreichen? Abgesehen davon konnte sich Tyler nur allzu gut vorstellen, wie unheimlich es hier war, wenn die Lichter ausgingen und alle (zumindest fast alle) Leute es verlassen hatten.
    Damit war er wieder an seinem Ausgangspunkt angelangt: allein und verängstigt.
    Tyler steckte die Hände in die Taschen seines Kapuzensweatshirts und befühlte die Karte, die ihm Detective Parker gegeben hatte. Er schien ganz nett zu sein. Vielleicht ein bisschen komisch, aber auf eine coole Art. Und als er Tyler gesagt hatte, er wolle Jace nichts Böses, da hatte Tyler ihm glauben wollen. Der andere Detective hätte ihm erzählen können, dass die Sonne im Osten aufging, und Tyler hätte es ihm nicht abgenommen.
    Verlass dich immer auf deinen Instinkt, hatte ihm Jace eingeschärft.
    Es war jetzt neunzehn Minuten nach sechs. Sein Instinkt sagte ihm, dass er nach Hause wollte. Wenn er über die Feuertreppe aufs Dach kletterte, könnte er sich vielleicht ins Haus schleichen und Madame Chen wissen lassen, dass es ihm gut ging. Sie müssten sich natürlich mit Zetteln oder in Zeichensprache verständigen, immerhin konnte das Haus verwanzt sein, aber wenigstens wüsste sie dann, dass es ihm gut ging, und er könnte in seinem eigenen Bett schlafen. Morgens würde er sich dann ganz früh wieder wegschleichen und zurück nach Downtown fahren, um erneut die Suche nach seinem Bruder aufzunehmen. Es war kein richtig guter Plan, aber zumindest war es ein Plan.
    Tyler schob sich die Riemen seines Rucksacks über die Schultern und machte sich auf den Weg nach draußen. Auf der anderen Seite der Fifth Street hatte sich ein kleiner Auflauf gebildet, zu Füßen der Bunker Hill Steps. Leute standen herum, fuchtelten mit den Armen und redeten wild durcheinander. Zwei Polizeiautos mit eingeschaltetem Blaulicht standen schräg zum Bürgersteig. Der Verkehr war zum Stillstand gekommen, ein lautes Hupkonzert war zu hören.
    Worum es dort auch ging, Tyler wollte nichts davon wissen. Er lief in Richtung Olive Street, bei jedem Schritt schlug ihm der Rucksack gegen den Hintern. Er war voll

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