Tödlich ist die Nacht
Hauptsprache ist Chinesisch in einer Vielzahl von Dialekten. Doch neben den traditionellen chinesischen Läden finden sich Galerien mit zeitgenössischer Kunst, Boutiquen und Yogaschulen.
Jace war mit Tyler nach Chinatown gezogen, nachdem ihre Mutter gestorben war. Sie hatten ihre wenigen Habseligkeiten in ein paar Wäschesäcke gestopft, die sie aus einem Lieferwagen auf dem Parkplatz hinter einem Restaurant geklaut hatten, und waren in einen Bus gestiegen. Jeden Abend, wenn Jace nach Chinatown zurückkehrte, erinnerte er sich an den Tag, an dem er seinen Bruder bei der Hand genommen und durch das Tor am Eingang zu Chinatown an einen Ort geführt hatte, an dem sie niemals jemand suchen würde.
Alicia Damon war namenlos im Good Samaritan Hospital gestorben. Jace wusste das, weil er sie selbst in die Notaufnahme gebracht hatte, im »geliehenen« Auto eines Junkies aus der Nachbarschaft, der so hinüber war, dass er es gar nicht mitbekam, als der schmächtige Junge von nebenan seine Schlüssel einsteckte.
Seine Mutter hatte der Schwester am Empfang weder ihren Namen noch ihre Adresse genannt. Sie hatte Jace nicht erlaubt zu zeigen, dass er zu ihr gehörte oder dass er in irgendeiner Weise Aufmerksamkeit auf sich zog oder jemandem sagte, wie er hieß oder wo sie wohnten.
Alicia hatte niemandem getraut, der bei irgendeiner Behörde arbeitete; am meisten Angst hatte sie vor den Leuten vom Jugendamt gehabt, die ihr ihre Söhne wegnehmen konnten. Die wenige Post, die sie bekamen, ging an ein Postfach, niemals an die Adresse der schäbigen Wohnung, in der sie gerade wohnten. Sie hatten kein Telefon. Jace war in der Schule unter dem Namen John Charles Jameson gemeldet. Sie lebten von dem Geld, das Alicia mit Aushilfsjobs bar auf die Hand verdiente, und von der Sozialhilfe, die jeden Monat per Scheck eintraf, ausgestellt auf Allison Jennings.
Sie hatten keine Freunde. Jace hatte nie einen Klassenkameraden mit nach Hause gebracht. Er hatte nie seinen Vater kennen gelernt oder auch nur ein Foto von ihm gesehen. Als er noch jünger gewesen war, hatte er wissen wollen, warum das so war, aber als er sechs war, hatte er aufgehört zu fragen, weil seine Mutter dann traurig wurde und in ein anderes Zimmer ging und weinte.
Er hatte eine Idee, wer Tylers Vater sein könnte – ein Barkeeper in einer Kneipe, in der seine Mutter kurze Zeit gearbeitet hatte. Er hatte den Typen ein paarmal gesehen, als er seiner Mutter heimlich zur Arbeit gefolgt war, weil er Angst gehabt hatte, allein in dem damals von ihnen gemieteten Zimmer zu bleiben. Zweimal hatte er durch das Fenster beobachtet, wie sie sich küssten, nachdem alle anderen Leute die Bar verlassen hatten. Dann hatten die Damons von heute auf morgen ihre Sachen zusammengepackt und waren in einen anderen Teil der Stadt gezogen.
Einige Monate später wurde Tyler geboren. Jace hatte den Barkeeper nie wieder gesehen.
Wann immer Jace gefragt hatte, warum sie so lebten, wie sie es taten, hatte Alicia nur geantwortet: »Man kann nicht vorsichtig genug sein.«
Jace hatte sie beim Wort genommen. Nach ihrem Tod hatte er keinen Anspruch auf die Leiche seiner Mutter erhoben, weil die Leute sonst Fragen gestellt hätten, und Fragen waren nichts Gutes. Er war damals gerade dreizehn Jahre alt gewesen und wusste, auch ohne dass es ihm jemand sagte, dass die Typen vom Jugendamt sich wie die Geier auf ihn und Tyler stürzen und sie in eine Pflegefamilie stecken würden, möglicherweise auch noch getrennt.
Außerdem war sowieso kein Geld für eine Beerdigung da. Und die Mutter, die er und Tyler gekannt hatten, gab es nicht mehr. Der Leichnam hatte nicht wirklich etwas mit dem Menschen zu tun, der sie gewesen war und nie wieder sein würde. Und so war er ins Leichenschauhaus von L.A. County verfrachtet worden, wo er zusammen mit dreihundert anderen unbekannten Toten lag, die jedes Jahr hereinkamen und vergeblich darauf warteten, dass sich jemand an sie erinnerte und sich der Mühe unterzog, sich um sie zu kümmern.
Mit ein paar Kerzenstummeln mit blauen Votivbildchen aus der katholischen Kirche drei Blocks weiter und verwelkten, nicht mehr verkäuflichen Blumen von dem koreanischen Markt am Ende der Straße hatten Jace und Tyler ihre eigene Gedenkfeier für ihre Mutter veranstaltet. Im Wohnzimmer hatten sie eine Art Altar errichtet. In der Mitte: ein Foto von Alicia, das vor langer Zeit, in besseren Zeiten, aufgenommen worden war.
Tyler hatte das Bild aus einer stoffbezogenen Schachtel
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