Tödliche Absicht
sah jetzt sehr blass aus. Der Betonboden schwamm in Blut. Nun blubberte und schäumte es aus ihrem Hals. Ihre Arterien waren leer und füllten sich mit Luft. Sie bewegte die Augen und sah ihn dann wieder an. Ihre bleichen Lippen begannen sich blau zu verfärben. Sie flatterten, formten ihre letzten Worte.
»Ich liebe dich, Joe«, flüsterte sie.
Dann lächelte sie glücklich.
»Ich liebe dich auch«, sagte er.
Er hielt sie noch sekundenlang in den Armen, bis sie ungefähr in dem Augenblick starb, in dem Stuyvesant das Feuer einstellen ließ. Plötzlich herrschte absolute Stille. Der starke kupfrige Geruch von Blut und der kalte, stechende Gestank von Kordit hingen in der Luft. Reacher hob den Kopf und sah einen Kameramann, der sich durch die Menge auf ihn zudrängte. Das schräg nach unten geneigte Kameraobjektiv war wie eine Kanone auf ihn gerichtet. Er sah, wie Neagley dem Mann in den Weg trat, wie er sie wegzustoßen versuchte. Sie schien sich nicht zu bewegen, aber der Kameramann ging plötzlich zu Boden. Er sah, wie Neagley die Kamera nahm und mit einem Schwung über die Mauer beförderte. Er hörte sie scheppernd aufschlagen. Er hörte die Sirene eines Krankenwagens. Dann eine weitere. Hörte Streifenwagen. Trampelnde Stiefel. Dann erkannte er Stuyvesants gebügelte graue Hose neben sich. Er stand in Froelichs Blut.
Stuyvesant rührte sich nicht, tat nichts, bis der Krankenwagen auf den Hof fuhr. Dann beugte er sich hinunter und versuchte, Reacher wegzuziehen. Reacher wartete, bis die Sanitäter sich ihnen näherten. Dann ließ er Froelichs Kopf behutsam auf den Boden sinken und stand auf. Er fühlte sich elend und unsicher auf den Beinen. Stuyvesant fasste ihn am Ellbogen und führte ihn weg.
»Ich weiß nicht mal ihren Vornamen«, sagte Reacher.
»Mary Ellen«, erwiderte Stuyvesant.
Die Rettungssanitäter bemühten sich eine Weile um sie, dann gaben sie auf und bedeckten sie mit einem Laken. Ließen sie dort für den Gerichtsmediziner und die Spurensicherer liegen. Reacher stolperte und setzte sich wieder hin – mit dem Rücken an der Mauer, die Hände auf den Knien, den Kopf in den Händen. Seine Kleidung war von Blut durchtränkt. Neagley ließ sich so neben ihm nieder, dass ihre Schultern sich fast berührten. Stuyvesant ging vor den beiden in die Hocke.
»Was passiert jetzt?«, fragte Reacher.
»Die Stadt wird abgeriegelt«, antwortete Stuyvesant. »Straßen, Brücken, die Flugplätze. Dafür ist Bannon zuständig. Er hat alle seine Leute im Einsatz, dazu Metro Cops, U. S. Marshals, Cops aus Virginia, Staate Troopers. Und einen Teil unserer Leute. Wir kriegen sie.«
»Sie benutzen den Zug«, sagte Reacher. »Die Union Station ist ganz in der Nähe.«
Stuyvesant nickte. »Sie durchsuchen alle Züge«, sagte er. »Wir fassen sie.«
»Mit Armstrong alles in Ordnung?«
»Völlig unverletzt. Froelich hat ihre Pflicht getan.«
Danach herrschte Schweigen. Reacher hob den Kopf.
»Was ist auf dem Dach passiert?«, fragte er. »Wo war Crosetti?«
Stuyvesant sah weg.
»Crosetti hat sich irgendwie weglocken lassen«, erklärte er. »Er liegt tot im Treppenhaus. Mit einem Kopfschuss erledigt. Vermutlich mit demselben Gewehr mit Schalldämpfer.«
Wieder langes Schweigen.
»Woher stammte Crosetti?«, wollte Reacher wissen.
»Aus New York, glaube ich«, antwortete Stuyvesant. »Vielleicht aus Jersey. Von irgendwo dort oben.«
»Das taugt nichts. Wo kam Froelich her?«
»Aus Wyoming.«
Reacher nickte. »Schon besser. Wo ist Armstrong jetzt?«
»Darf ich Ihnen nicht sagen«, wehrte Stuyvesant ab. »Vorschrift.«
Reacher hob seine rechte Hand und betrachtete sie. Sie war blutrot. Alle Linien und Narben traten rot hervor.
»Sagen Sie’s mir«, verlangte er. »Sonst breche ich Ihnen das Genick.«
Stuyvesant schwieg.
»Wo ist er?«, wiederholte Reacher.
»Im Weißen Haus«, sagte Stuyvesant. »In einem sicheren Raum. Vorschrift.«
»Ich muss mit ihm reden.«
»Jetzt?«
»Sofort.«
»Das können Sie nicht.«
Reachers Blick wanderte an ihm vorbei zu den umgestürzten Tischen. »Doch, das kann ich.«
»Das darf ich nicht zulassen.«
»Dann versuchen Sie doch, mich aufzuhalten.«
Stuyvesant machte eine nachdenkliche Pause.
»Lassen Sie mich erst telefonieren«, bat er.
Er stand auf und ging davon.
»Alles okay mit dir?«, fragte Neagley.
»Es war wieder wie bei Joe«, sagte Reacher. »Wie bei Molly Beth Gordon.«
»Du konntest nichts dagegen tun.«
»Hast du’s gesehen?«
Neagley
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