Tödliche Absicht
nickte wortlos.
»Sie hat eine für ihn bestimmte Kugel abgefangen«, sagte Reacher. »Dabei hat sie mir erklärt, das sei nur eine Redewendung.«
»Instinkt«, sagte Neagley. »Und sie hat Pech gehabt. Die Kugel muss ihre Weste um ein paar Zentimeter verfehlt haben. Ein unterschallschnelles Geschoss wäre einfach abgeprallt.«
»Hast du den Schützen gesehen?«
Neagley schüttelte den Kopf. »Ich hab die Tische beobachtet. Und du?«
»Ganz flüchtig«, sagte Reacher. »Ein einzelner Mann.«
»Verdammtes Pech.«
Reacher nickte und wischte sich die Hände an seiner Hose ab. Dann fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar. »Wäre ich Versicherungsmakler, würde ich keinen von Joes alten Freunden versichern. Ich würde ihnen raten, Selbstmord zu begehen, um den Verbrechern die Arbeit zu ersparen.«
»Was passiert jetzt?«
Er zuckte mit den Schultern. »Du solltest nach Chicago zurückfliegen.«
»Und du?«
»Ich bleib noch hier.«
»Warum?«
»Du weißt, warum.«
»Das FBI schnappt sie.«
»Aber nicht, wenn ich sie zuerst erwische«, sagte Reacher.
»Du bist fest entschlossen?«
»Ich hab sie in den Armen gehalten, während sie verblutet ist. Ich denke nicht daran, einfach abzuhauen.«
»Dann bleib ich auch.«
»Ich komm allein zurecht.«
»Das weiß ich«, sagte Neagley. »Aber gemeinsam mit mir bist du besser.«
Reacher nickte.
»Was hat sie zu dir gesagt?«, fragte Neagley.
»Nichts. Sie dachte, ich sei Joe.«
Er sah Stuyvesant über den Hof zurückkommen und stemmte sich mit beiden Händen an der Mauer hoch.
»Armstrong erwartet uns«, sagte Stuyvesant. »Wollen Sie sich erst umziehen?«
Reacher sah an sich herab.
»Nein«, sagte er.
Sie fuhren mit Stuyvesants Suburban. Es war noch immer Thanksgiving Day, und die Stadt weiterhin ruhig. Alle Durchgangsstraßen um das Weiße Haus waren durch hastig errichtete doppelte Polizeisperren abgeriegelt. Stuyvesant ließ seine Blinkleuchten eingeschaltet und wurde überall durchgewinkt. Am Tor des Weißen Hauses zeigte er seinen Dienstausweis vor und parkte vor dem Westflügel. Ein Marineinfanterist, der dort Wache hielt, übergab sie einem Secret-Service-Mann, der sie hineingeleitete. Sie gingen zwei Treppen in ein gemauertes Kellergewölbe hinunter. Dort unten gab es Versorgungsräume und weitere Räume mit massiven Stahltüren. Ihr Begleiter blieb vor einer stehen und klopfte.
Die Tür wurde von einem der Leibwächter Armstrongs geöffnet. Er trug noch immer seine Kevlarweste und die Sonnenbrille, obwohl der Raum fensterlos war. Es gab nur helle Leuchtstoffröhren an der Decke. Armstrong und seine Frau saßen in der Mitte des Raums an einem Tisch. Die beiden anderen Agenten lehnten an der Wand. Armstrongs Frau hatte geweint, das war nicht zu übersehen. Armstrong, dessen linker Wangenknochen einen Fleck von Froelichs Blut aufwies, wirkte bedrückt. Als mache die ganze Weiße-Haus-Sache ihm plötzlich keinen Spaß mehr.
»Wie sieht’s aus?«, fragte er.
»Zwei Tote«, antwortete Stuyvesant halblaut. »Der Wachposten auf dem Lagerhausdach und M. E. selbst. Beide sind am Tatort gestorben.«
Armstrongs Frau wandte sich ab, als habe sie gerade eine Ohrfeige bekommen.
»Sind die Täter gefasst?«, fragte Armstrong.
»Das FBI organisiert die Verfolgung«, sagte Stuyvesant. »Nur eine Frage der Zeit.«
»Ich möchte helfen«, sagte Armstrong.
»Das können Sie«, sagte Reacher.
Armstrong nickte. »Und wie?«
»Sie können vor die Fernsehkameras treten«, erklärte Reacher. »Sofort. Damit Ihr Auftritt noch rechtzeitig in den Abendnachrichten gesendet wird.«
»Was soll ich sagen?«
»Sie teilen mit, dass Sie aus Trauer um die beiden ermordeten Agenten auf Ihren geplanten Kurzurlaub in North Dakota verzichten. Dass Sie in Ihrem Haus in Georgetown bleiben und keine Termine wahrnehmen werden, bevor Sie am Sonntagmorgen an dem Trauergottesdienst für die Leiterin Ihres Bewachungsteams in deren Heimatstadt in Wyoming teilgenommen haben. Stellen Sie fest, wie die Stadt heißt, und erwähnen Sie ihren Namen laut und deutlich.«
Armstrong nickte wieder. »Okay«, sagte er, »das könnte ich machen. Aber wozu?«
»Weil diese Männer hier in Washington keinen weiteren Versuch wagen werden. Nicht angesichts der Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz Ihres Hauses. Also werden sie heimkehren und warten. Auf diese Weise habe ich bis Sonntag Zeit, sie aufzuspüren.«
»Sie? Schnappt das FBI sie nicht schon heute?«
»Das wäre großartig. Dann könnte ich
Weitere Kostenlose Bücher