Tödliche Absicht
Um meine Leistung? Ich bin viel besser als du.«
»Das weiß ich.«
»Okay, wo liegt dann das Problem?«
»Das Problem ist deine Lizenz. Du hast etwas zu verlieren.«
Neagley schwieg.
»Du verfügst über eine Lizenz, stimmt’s?«, fragte Reacher. »Um in deiner Branche arbeiten zu können? Und du hast ein Büro, einen Job und einen festen Wohnsitz. Ich werde nach dieser Sache verschwinden. Du kannst das nicht.«
»Glaubst du, dass wir geschnappt werden?«
»Ich kann’s mir leisten, das zu riskieren, du nicht.«
»Wenn wir nicht geschnappt werden, gibt’s kein Risiko.«
Diesmal schwieg Reacher.
»Es ist genau so, wie du’s Bannon erklärt hast«, sagte sie. »Ich stelle mir vor, ich liege da und habe einen der Kerle im Visier, spüre plötzlich ein Kribbeln am Rückgrat. Dann brauche ich dich, damit du mir den Rücken freihältst.«
»Dies ist nicht dein Kampf.«
»Und warum ist es deiner? Weil irgendeine Frau, die dein Bruder verlassen hat, umgekommen ist, während sie ihre Pflicht getan hat? Das ist verdammt weit hergeholt.«
Reacher sagte nichts.
»Okay, es ist dein Kampf«, lenkte Neagley ein. »Das weiß ich. Aber diese Sache in deinem Kopf, die ihn zu deinem Kampf macht, macht ihn auch zu meinem. Weil ich dieselbe Sache in meinem Kopf habe. Und selbst wenn wir nicht dieselbe Einstellung hätten … würdest du mir denn nicht helfen, wenn ich ein Problem hätte?«
»Natürlich, wenn du mich darum bitten würdest.«
»Okay, dann sind wir quitt.«
»Aber ich bitte dich nicht darum.«
»Im Moment nicht. Aber das kommt noch. Du bist zweitausend Meilen von Wyoming entfernt und hast keine Kreditkarte, um dir ein Flugticket zu besorgen. Aber ich habe eine. Du bist mit einem kleinen Klappmesser bewaffnet, und ich kenne einen Kerl in Denver, der uns, ohne Fragen zu stellen, jede Waffe verkauft, die wir haben wollen – und du kennst ihn nicht. Ich kann uns in Denver für den Rest der Strecke einen Wagen mieten, und du kannst das nicht.«
Sie gingen weiter, zwanzig Meter, dreißig.
»Okay«, sagte Reacher. »Ich bitte dich darum.«
»Die Klamotten kaufen wir in Denver«, erklärte sie. »Ich weiß ein paar gute Geschäfte.«
Sie erreichten Denver vor fünfzehn Uhr Ortszeit. Die Hochebenen um die Stadt lagen im Winterschlaf. Schnee war noch keiner gefallen, aber er würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Die Schneepflüge für die Landebahnen standen aufgereiht in Bereitschaft. Die Schneezäune waren aufgebaut. Die Leihwagenfirmen hatten ihre Limousinen nach Süden verlegt und Geländewagen herantransportiert. Am Avis-Schalter unterschrieb Neagley für einen GMC Yukon. Sie fuhren mit dem Shuttlebus zum Parkplatz und übernahmen den Wagen, der Froelichs schwarzem Suburban sehr ähnlich sah. Er war allerdings gut einen halben Meter kürzer.
Sie fuhren damit die weite Strecke in die Stadt. Hier schien es unendlich viel Platz zu geben. Nachdem sie den Wagen in einem Parkhaus in der Innenstadt abgestellt hatten, gingen sie drei Straßenblocks weit, um das Geschäft zu suchen, das Neagley im Kopf hatte. Es war ein Laden für Outdoor- und Trekkingbedarf. Sie erstanden ein Teleskop, wie es Vogelliebhaber benutzen, und eine Wanderkarte, die Wyoming im Detail zeigte, und schlenderten dann zu den Ständern mit Bekleidung. Neagley entschied sich für strapazierfähige Wintersachen in Grün- und Brauntönen. Reacher kleidete sich ähnlich wie in Atlantic City ein – zum doppelten Preis bei doppelt so guter Qualität. Diesmal legte er eine Mütze und ein Paar Handschuhe dazu. Er zog sich in einer Umkleidekabine um, ließ Joes letzten Anzug im Abfallbehälter zurück.
Neagley entdeckte an einer Straßenecke ein Münztelefon und telefonierte kurz. Dann gingen sie zu ihrem Leihwagen in die Tiefgarage zurück und fuhren anschließend in eines der zweifelhafteren Viertel von Denver. In der Luft hing ein starker Geruch nach Hundefutter.
»Hier gibt’s eine Fabrik dafür«, erklärte sie.
Reacher nickte. »Was du nicht sagst.«
Sie bog in eine Art Gewerbegebiet ab und schlängelte sich durch ein Labyrinth aus niedrigen, mit Metallplatten verkleideten Gebäuden. Hier gab es Fußbodenbeläge, einen Bremsendienst und einen Reifenhändler, der vier Winterreifen für neunundneunzig Dollar anbot und für eine Spurvermessung zwanzig Dollar verlangte. An einer Ecke stand ein niedriges Werkstattgebäude allein in der Mitte einer tausend Quadratmeter großen Asphaltfläche, die von tiefen Rissen durchzogen war.
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