Tödliche Absicht
verwirrt, aber dieser Mann hatte nichts zu verbergen.
»Okay«, sagte er. »Entschuldigen Sie die Störung.«
Auf der Rückfahrt ins Büro war Reacher sehr still und in sich gekehrt.
Sie gingen wieder in den Konferenzraum. Er schien der einzige Raum mit mehr als drei Sitzgelegenheiten zu sein. Neagley ließ Froelich neben Reacher sitzen. Sie selbst nahm neben Stuyvesant auf der anderen Seite des Konferenztisches Platz. Froelich setzte sich über Funk mit ihren Sicherheitsleuten in Verbindung und erfuhr, dass Armstrong im Begriff war, das Hotel zu verlassen. Er kürzte seine Anwesenheit ab. Das schien niemanden zu stören. Widmete er sich den Gästen lange, waren sie begeistert. Verschwand er schon bald wieder, freuten sie sich darüber, dass ein so wichtiger und viel beschäftigter Mann überhaupt Zeit für sie gefunden hatte. Froelich hörte weiter zu und folgte Armstrong akustisch auf seinem Weg aus dem Ballsaal, durch die Küche, in die Ladebucht hinaus und zu seiner Limousine. Dann atmete sie auf. Jetzt blieben nur noch die Wagenkolonne nach Georgetown und der nächtliche Transfer durch den Leinwandtunnel. Sie stellte ihr Funkgerät etwas leiser, lehnte sich zurück und sah die anderen mit fragendem Blick an.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Neagley. »Es deutet auf etwas hin, das ihnen mehr Sorgen macht als das Wohlergehen ihrer Kinder.«
»Was könnte das sein?«, fragte Froelich.
»Green cards? Sind sie legal hier?«
Stuyvesant nickte. »Natürlich. Sie sind Angestellte des United States Secret Service wie jeder andere in diesem Gebäude. Mehrfach auf Herz und Nieren überprüft. Wir schnüffeln in ihren Finanzen und allem anderen herum. Unseres Wissens waren sie clean, als sie eingestellt wurden.«
Reacher hörte nur noch mit halbem Ohr zu. Er rieb sich mit einer Hand den Hinterkopf. Sein kurz geschnittenes Haar wuchs schon wieder nach. Es fühlte sich weicher an. Er sah zu Neagley. Starrte auf den makellos sauberen Teppichboden aus geripptem, grauem Nylon. Im Halogenlicht konnte er einzelne Fäden glitzern sehen. Reacher schloss die Augen. Dachte angestrengt nach. Ließ in seinem Kopf nochmals das Überwachungsvideo ablaufen: Acht Minuten vor Mitternacht kommen die Raumpfleger ins Bild. Sie verschwinden in Stuyvesants Büro. Sieben Minuten nach Mitternacht kommen sie wieder heraus. Sie brauchen neun Minuten, um den Vorraum mit dem Arbeitsplatz der Sekretärin zu putzen. Sechzehn Minuten nach Mitternacht gehen sie wieder. Er konzentrierte sich auf jedes einzelne Bild, jede Bewegung. Dann öffnete er die Augen. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Er sah auf seine Armbanduhr. Kurz vor einundzwanzig Uhr. Er lächelte – ein breites, zufriedenes Grinsen.
»Mr. Gálvez hat mir gefallen«, sagte er. »Er war in seiner Vaterrolle richtig glücklich, nicht? All diese aufgereihten Lunchboxen. Ich wette, da ist Vollkornbrot drin und Obst. Alle möglichen gesunden Sachen.«
Die anderen starrten ihn an.
»Ich war ein Soldatenkind«, fuhr er fort. »Hatte auch eine Lunchbox. Meine war ein alter Munitionsbehälter. Die hatten wir alle. Auf den Stützpunkten galten sie damals als schick. Ich habe meinen Namen mit einer richtigen Schriftschablone der Army draufgemalt. Diese Schrift konnte meine Mutter nicht leiden. Sie fand, für einen kleinen Jungen sehe das viel zu militaristisch aus. Aber sie hat mir trotzdem gute Sachen mitgegeben.«
»Reacher, wir stehen vor großen Problemen, zwei Leute sind ermordet worden, und du redest von Lunchboxen?«, sagte Neagley.
Er nickte. »Ich rede von Lunchboxen und denke an Haarschnitte. Mr. Gálvez war kürzlich beim Friseur, ist dir das aufgefallen?«
»Und?«
»Und entschuldige, wenn ich das sage, Neagley, aber ich denke an deinen Hintern.«
Froelich starrte ihn an. Neagley wurde rot.
»Worauf willst du hinaus?«, fragte sie.
»Ich will darauf hinaus, dass es meiner Ansicht nach für Julio und Anita nichts Wichtigeres gibt als ihre Kinder.«
»Warum halten sie dann weiter dicht?«
Froelich setzte sich auf und drückte ihren Ohrhörer mit einem Finger ins Ohr. Hörte kurz zu und hob die linke Hand.
»Verstanden«, sagte sie ins Mikrofon. »Gut gemacht, Leute, Ende.«
Dann lächelte sie.
»Armstrong ist zu Hause«, sagte sie. »Sicher.«
Reacher sah erneut auf seine Armbanduhr. Punkt einundzwanzig Uhr. Er blickte zu Stuyvesant. »Kann ich mir Ihr Büro noch mal ansehen? Gleich jetzt?«
Stuyvesant machte ein verständnisloses Gesicht, aber er stand auf und ging
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