Tödliche Absicht
ist«, antwortete Reacher. »Ich vermute, dass er diese eine Kamera eine ganze Woche lang von Mitternacht bis sechs Uhr morgens mit dem Datum dieses speziellen Donnerstags hat laufen lassen. Vielleicht zwei volle Wochen. Weil er drei Optionen brauchte. Die Raumpfleger konnten vor Mitternacht reingehen und rauskommen oder vor Mitternacht reingehen und nach Mitternacht rauskommen, oder nach Mitternacht reingehen und rauskommen. Das musste er abwarten. Wären sie vor Mitternacht reingegangen und rausgekommen, hätte er ein Band geliefert, auf dem zwischen Mitternacht und sechs Uhr nichts mehr passiert. Wären sie nach Mitternacht reingegangen und rausgekommen, wäre das zu sehen gewesen. Aber wegen des tatsächlichen Ablaufs musste er ein Band verwenden, das sie nur beim Herauskommen zeigt.«
»Nendick hat also den Brief auf meinen Schreibtisch gelegt?«, fragte Stuyvesant.
Reacher nickte. »Nendick ist der Insider. Nicht die Raumpfleger. Was diese spezielle Kamera in der fraglichen Nacht wirklich aufgezeichnet hat, war Folgendes: Die Raumpfleger gehen kurz nach Mitternacht. Irgendwann vor sechs Uhr kommt Nendick, der Latexhandschuhe trägt und den Drohbrief in der Hand hält, durch die Treppenhaustür herein. Vermutlich gegen halb sechs, damit er nicht allzu lange warten musste, bis er das echte Band vernichten und durch ein anderes ersetzen konnte.«
»Aber es zeigt, wie ich morgens ins Büro komme. Und meine Sekretärin auch.«
»Das ist auf dem dritten Band. Die Aufnahmen ab sechs Uhr morgens sind wieder echt. Nur das mittlere Band wurde ausgetauscht.«
Schweigen im Raum.
»Bestimmt hat er ihnen auch die Kameras in der Tiefgarage beschrieben«, sagte Reacher. »Für die Zustellung am Sonntagabend.«
»Wie sind Sie darauf gekommen?«, fragte Stuyvesant. »Wegen der Haare?«
»Teilweise. Hauptsächlich wegen Neagleys Hintern. Nendick war wegen der Videos so nervös, dass er gar nicht auf Neagleys Hintern geachtet hat. Das ist ihr aufgefallen. Sie hat mir erzählt, dass das sehr ungewöhnlich ist.«
Stuyvesant errötete wieder.
»Also sollten Sie die Raumpfleger laufen lassen«, sagte Reacher. »Anschließend sollten wir uns Nendick vorknöpfen. Er ist derjenige, der sich mit diesen Kerlen getroffen hat.«
Stuyvesant nickte. »Und vermutlich von ihnen bedroht wurde.«
»Das hoffe ich«, sagte Reacher. »Ich hoffe, dass er nicht freiwillig mitgemacht hat.«
Stuyvesant benutzte seinen Generalschlüssel und betrat den Videoraum, wobei er den Officer vom Dienst als Zeugen mitnahm. Sie stellten fest, dass vor dem fraglichen Donnerstag zehn aufeinander folgende Videobänder für die Zeit von Mitternacht bis sechs Uhr verschwunden waren. Nendick hatte sie in seiner Kladde als fehlerhafte Aufzeichnungen vermerkt. Dann wählten sie willkürlich ein Dutzend Bänder aus den letzten drei Monaten aus und kontrollierten die jeweils entscheidenden Abschnitte. Sie bestätigten, dass die Raumpfleger sich nie länger als neun Minuten in Stuyvesants Büro aufgehalten hatten. Also telefonierte er und sorgte dafür, dass die Raumpfleger sofort aus der Untersuchungshaft entlassen wurden.
Nun gab es drei Möglichkeiten: Sie konnten Nendick unter einem Vorwand herkommen lassen, Leute losschicken, um ihn zu verhaften, oder selbst zu ihm fahren und ihn ausquetschen, bevor der sechste Verfassungszusatz wirksam wurde und die Sache verkomplizierte.
»Wir sollten gleich hinfahren«, schlug Reacher vor. »Das Überraschungsmoment nutzen.«
Er erwartete Widerstand, aber Stuyvesant nickte nur gleichmütig. Er sah müde und blass aus. Wie ein Mann, in dem Zorn und das Gefühl, verraten worden zu sein, mit dem Washingtoner Standardinstinkt, Unangenehmes zu verschleiern, im Widerstreit lagen. Ein Kerl wie Nendick, der in einer Organisation eine wichtige Rolle spielte, hätte sich nicht mit Verbrechern einlassen dürfen. Deshalb startete Stuyvesant den Computer seiner Sekretärin und suchte Nendicks Adresse heraus. Er wohnte in einem Washingtoner Vorort in Virginia. Die Fahrt dorthin dauerte zwanzig Minuten. Nendick lebte in einer ruhigen Straße, die durch ein Neubaugebiet führte. Eine mittelteure Wohngegend. In den meisten Einfahrten standen ausländische Wagen, aber keine neuen Modelle. Nendick wohnte in einem langen, niedrigen Ranchhaus mit khakifarbenem Dach und Klinkerkamin. Es war dunkel bis auf das bläuliche Flackerlicht eines Fernsehers hinter einem der Fenster.
Froelich parkte vor dem Garagentor. Sie stiegen aus und gingen zur
Weitere Kostenlose Bücher