Tödliche Absicht
Haustür. Stuyvesant klingelte. Kurz darauf wurde in der Diele Licht gemacht. Über ihren Köpfen flammte eine gelbe Lampe auf. Die Tür öffnete sich, und Nendick stand wie erstarrt vor ihnen. Er trug einen Anzug, als komme er gerade vom Dienst. Er wirkte kraftlos vor Angst. Stuyvesant musterte ihn, zögerte kurz und trat dann ein. Froelich, Reacher und Neagley folgten ihm. Neagley schloss die Tür hinter sich und baute sich wie ein Wachposten davor auf: breitbeinig, die Hände auf dem Rücken.
Nendick brachte kein Wort heraus, stand einfach nur da, bis Stuyvesant ihm eine Hand auf die Schulter legte und ihn in Richtung Küche schob. Nendick leistete keinen Widerstand. Stuyvesant folgte ihm in die Küche und schaltete dort das Licht ein.
»Platz«, sagte er, als rede er mit einem Hund.
Nendick setzte sich gehorsam auf einen der Hocker an der Frühstückstheke. Sagte nichts. Schlang nur die Arme um seinen Oberkörper, als ob er sich schützen müsste.
»Namen«, sagte Stuyvesant.
Nendick schwieg hartnäckig. Er arbeitete daran, nichts zu sagen. Er starrte die Rückwand der Küche an. Eine der Leuchtstoffröhren war defekt und flimmerte. Nendicks Hände zitterten. Er klemmte sie sich unter die Achseln und begann auf dem Hocker vor und zurück zu schaukeln. Unter seinem Gewicht knarrte das Holz. Reacher sah sich in der Küche um. Ein hübscher Raum. An den Fenstern hingen gelb karierte Vorhänge. Die Decke war im selben Farbton gestrichen. In Vasen standen Blumen, die alle verwelkt waren. Im Ausguss stand Geschirr. Es musste sich wochenlang angesammelt haben. Manche Teller waren dick verkrustet.
Reacher ging in die Diele und ins Wohnzimmer. Der Fernseher war ein riesiger, schon ein paar Jahre alter Kasten. Er war auf einen Privatsender eingestellt. Der Ton war leise gedreht. Auf der Armlehne eines Sessels gegenüber dem Fernseher lag die Fernbedienung. Auf dem niedrigen Sims des offenen Kamins stand eine Reihe von sechs Fotos in Messingrahmen. Sie zeigten alle Nendick und eine Frau. Sie war ungefähr so alt wie er und nicht unattraktiv. Die Fotos zeigten das Paar an seinem Hochzeitstag und während mehrerer Urlaubsreisen. Kinderfotos gab es keine. Auch keine Spielsachen. Keine Unordnung. Alles sorgfältig ausgesucht und aufeinander abgestimmt – ein Haus für Erwachsene.
Auf der Fernbedienung stand nicht TV, sondern Video . Reacher drückte PLAY. Der im Hintergrund hörbare Polizeifunk verstummte augenblicklich, und der Videorecorder summte und klickte. Dann wurde das Bild einen Moment schwarz, um durch ein Amateurvideo von einer Hochzeit ersetzt zu werden. Nendick und seine Frau lächelten in die Kamera. Sie sahen glücklich aus. Sie trug ein weißes Hochzeitskleid, er einen dunklen Anzug. Sie standen auf einer Rasenfläche. Der Wind zerzauste ihr Haar. Sie hatte ein hübsches Lächeln und strahlende Augen. Sie sagte etwas, aber Reacher konnte es nicht verstehen.
Er drückte auf STOP, und die nächtliche Verfolgungsjagd ging weiter. Als er in die Küche zurückkam, saß Nendick in der gleichen Haltung wie zuvor da und schwieg noch immer. Reacher betrachtete erneut das schmutzige Geschirr und die verwelkten Blumen.
»Wir können sie Ihnen zurückbringen«, sagte er.
Nendick sagte nichts.
»Sagen Sie uns nur, wer sie festhält, dann ziehen wir sofort los, um sie zu holen.«
Keine Antwort.
»Je früher, desto besser«, fuhr Reacher fort. »Unter solchen Umständen wollen wir sie nicht länger warten lassen als unbedingt nötig, oder?«
Nendick konzentrierte sich darauf, die Rückwand der Küche anzustarren.
»Wann haben die Kerle sie gekidnappt?«, fragte Reacher. »Vor ein paar Wochen?«
Nendick schwieg. Gab überhaupt keinen Ton von sich. Neagley kam aus der Diele und schlenderte in die als Sitzecke eingerichtete andere Hälfte der Küche. Dort standen entlang einer Wand zwei Bücherschränke und ein Sideboard.
»Wir können Ihnen helfen«, sagte Reacher. »Aber Sie müssen uns sagen, wo wir anfangen sollen.«
Nendick gab keine Antwort. Starrte nur weiter die Küchenwand an.
»Reacher!«, rief Neagley mit verhaltener Stimme, aus der Anspannung sprach. Er trat zu ihr an das Sideboard. Sie reichte ihm einen Briefumschlag, der ein Polaroidfoto enthielt. Das Foto zeigte eine blass und ängstlich aussehende Frau, die auf einem Stuhl saß. Ihre Augen waren schreckhaft geweitet. Ihr Haar wirkte ungewaschen. Es war Nendicks Frau, um Jahre älter als auf den Fotos im Wohnzimmer. Sie hielt ein Exemplar von
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