Tödliche Aktien
Antwort interessiert war. Ich war es. Ich wollte den Standpunkt von BOWL kennenlernen. Was für Beweggründe hatte Doogie?
»Virtuelle Realität ist gefährlich«, sagte er. »Ein bißchen erinnert sie an die Kernspaltung. Eine großartige wissenschaftliche Entdeckung, vorangetrieben von Leuten, die an ihren Nutzen für die Menschheit glauben. Aber sie kann auch großen Schaden anrichten. Die Entdeckung der Kernkraft können wir nicht ungeschehen machen, und wir haben alle Hände voll zu tun, sie unter Kontrolle zu halten, was uns ja nicht immer gelingt. Bei der Kontrolle der Virtuellen Realität müssen wir mehr Erfolg haben.«
»Aber was haben Sie gegen VR? Sie bringt keine Menschen um, und es gibt eine Fülle von nützlichen Anwendungen.«
»Bringt keine Menschen um?« schnaubte Doogie. »Und was ist mit dem jungen Typen auf dem Motorrad?«
»Sie wissen, worauf ich hinauswill«, sagte ich.
Wieder sah Doogie mich prüfend an. »Zugegeben, die plumpen Geräte heute sind noch keine große Bedrohung, doch sie erzeugen auch noch keine echte Virtuelle Realität. Man merkt sofort, daß man sich in einer Art Zeichentrickwelt bewegt. Doch schon bald wird sich die Virtuelle Realität nicht mehr sonderlich von der Wirklichkeit unterscheiden. Und das wird aus vielen Gründen gefährlich sein.
Die Menschen werden die Virtuelle Realität der Wirklichkeit vorziehen. Sie brauchen sich nur anzusehen, wie sich die Pornographie im Internet ausgebreitet hat, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was auf uns zukommt. Ich bin nicht prüde, aber wir sprechen hier nicht über Kunst oder Meinungsfreiheit. Wir sprechen über Psychopathen und Perverse, die vorm Schlafengehen noch schnell eine halbe Stunde vergewaltigen und foltern. Und wenn die Virtuelle Realität ihren Reiz eingebüßt hat, dann gehen sie ihrem Hobby eben in der Wirklichkeit nach.«
»Aber das ist doch wohl nur eine kleine Minderheit?«
»Das sagen Sie so, aber Sie wären überrascht, wie viele angeblich normale Männer vergewaltigen und foltern würden, gäbe man ihnen die Gelegenheit dazu, besonders wenn ihnen keine sozialen Kontrollen Einhalt gebieten. Wir wissen alle, was eine disziplinlose Armee in Kriegszeiten der Zivilbevölkerung antun kann – dabei hatten auch die Gestapo-Leute Frauen und Kinder. Früher war es der Krieg, der diese mörderischen Instinkte an die Oberfläche brachte. Jetzt wird es VR sein.«
»Okay«, sagte ich. »Einverstanden, virtuelle Pornographie und Gewalt müssen kontrolliert werden. Doch was ist mit dem Rest der Menschheit? All den Leuten, die einen vernünftigen Gebrauch von VR machen könnten?«
»Wenn Sie einen Großteil Ihres Lebens in virtuellen Welten verbringen, verlieren Sie irgendwann das, was Sie zum Menschen macht. Sie werden der natürlichen Welt, der Umwelt, dem ökologischen System, der Familie, der Gemeinschaft entfremdet und verfallen einer völlig künstlichen Welt. Die Gesellschaft wird in entscheidenden Bereichen nicht mehr funktionieren, weil wir keine Menschen mehr sind, sondern nur noch vergnügungssüchtige Marionetten von Computern.« Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus, während er sich zusehends erregte. »Aber wissen Sie, was mich am meisten ankotzt?«
»Was?«
»Wer, glauben Sie, wird darüber entscheiden, welche virtuellen Welten zur Verfügung stehen? Der normale Benutzer? O nein, es wird irgendein gigantisches Unternehmen sein, Microsoft, News International, vielleicht auch der Staat. Wir werden alle einer Gehirnwäsche unterzogen werden. Oh, es wird ganz unauffällig geschehen, aber am Ende wird man Ihnen vorschreiben, was Sie zu wünschen, was Sie zu denken und wie Sie sich zu verhalten haben. Dann leben wir alle in einer von Silicon Valley und Hollywood geschusterten Welt kränklicher Gefühle, unter dem Diktat einer ekligen, pseudoliberalen Sentimentalität. Das sind die Aussichten heute. In dreißig Jahren wird irgendein Diktator unser Bewußtsein in einer Weise kontrollieren, von der sich selbst Goebbels nichts hat träumen lassen.« Er schauderte. »Himmel! Stellen Sie sich vor, die Thatcher hätte sich durch VR in alle Köpfe schmuggeln können.«
Doogies Augen hatten einen fanatischen Glanz. Das Wort »Thatcher« spie er mit der ganzen Verachtung aus, die sich in zehn Jahren Protest und Aktivismus angesammelt hatte. Und doch waren seine Ausführungen intelligent und beredt. Ganz offensichtlich hatte er das alles gründlich durchdacht und glaubte aufrichtig daran. Das
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