Toedliche Blumen
die Unterschiede zwischen ihnen weitaus zahlreicher als die Übereinstimmungen. Erika Ljung war eine hoch gewachsene Frau mit brauner Hautfarbe, während Alicia eher klein war und ihre Haut einen sehr hellen Teint aufwies. In dem auffallend blutleeren Gesicht standen die großen schwarzbraunen Augen etwas hervor. Glupschaugen, befand Erika, die versuchte, sich das Gesicht von Alicia Braun einzuprägen. Ihr Haar war eine einzige Augenweide. Eine riesige Mähne, die genauso voluminös wie lang war und in zwei ganz unterschiedlich gefärbten Nuancen leuchtete. Rabenschwarz und kirschrot. Vom Kopf bis über die Schultern ergoss sich sozusagen eine dunkel leuchtende Farbskala. Das beträchtliche Volumen, das zweifellos und dennoch erstaunlicherweise die Nacht überstanden hatte, ließ ihr Gesicht schrumpfen und an die Trophäe eines Kopfjägers erinnern. Alles in allem eine recht interessante Erscheinung, fand Erika.
Da jedoch Alicias Ausstrahlung im Hinblick auf Erikas Berufsfeld beziehungsweise auf jedes so genannte seriöse Berufsfeld wenig aussagekräftig war und somit nicht als entscheidendes Kriterium galt, begann Erika, Überlegungen bezüglich ihrer Beschäftigung anzustellen. Gesetzt den Fall, dass sie überhaupt einer solchen nachging, was durchaus anzunehmen war, da die Wohnungen in diesem Gebäude keineswegs umsonst waren.
Alicias Wohnung bestand aus zwei Zimmern. Das Haus schien überwiegend mit Zweizimmerwohnungen ausgestattet zu sein. Vereinzelt gab es auch Dreizimmerwohnungen und offensichtlich auch noch größere im Dachgeschoss. Diese war etwas anders geschnitten als die anderen, in denen Erika bereits gewesen war, was wahrscheinlich daran lag, dass die Wohnung im Winkel zwischen den beiden Gebäudeteilen lag. Anstelle des Durchgangszimmers und der Küche am einen Ende der Wohnung gingen hier Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer von einem großen Flur ab. Von allen Seiten fiel Licht ein. Im Wohnzimmer war ein weißer Kachelofen aus der Zeit vor der Renovierung stehen geblieben. Als Erika ihn erblickte, wurde sie blass vor Neid.
»Wer, sagten Sie, wurde niedergeschlagen?«, wollte Alicia Braun wissen, während sie ihren leuchtend gelben Frotteemorgenmantel enger um sich zog und den flauschigen Gürtel knotete.
»Eine Nachbarin.«
»Ach ja. Und wer?«
Die schwarzbraunen Augen blickten sie erwartungsvoll an. Sie konnte ebenso gut gleich damit herausrücken.
»Doris Västlund«, antwortete Erika Ljung.
»Ach die!«, rutschte es Alicia ohne größeren Enthusiasmus in der Stimme heraus. »Mit ihr hatte ich nie etwas zu tun. Weiß kaum, wer sie ist, abgesehen vom Namen.«
»Seit wann wohnen Sie hier?«
»Tja, ungefähr ein Jahr.«
Sie notierte die Auskunft in ihrem kleinen Notizblock.
»Hab ich Sie geweckt?«
»Ja. Es war recht spät gestern. Ich war eingeladen.«
»Wann haben Sie gestern Abend das Haus verlassen?«
»So um sieben. Ich bin zu einem Bekannten hier im Haus gegangen, und ungefähr eine halbe Stunde später sind wir dann aufgebrochen.«
»Hatten Sie dasselbe Ziel?«
»Ja.«
»Ein Fest?«
»Ja.«
»Sie waren also bis um sieben Uhr hier in der Wohnung?«
»Nein.«
»Nein? Wo waren Sie dann?«
»Erst bei der Arbeit. Im Fitnessstudio.«
»Gymnastik?«
»Ja. Um halb vier hab ich dort Schluss gemacht und bin direkt zum Friseur gegangen«, erklärte sie und zog ihre schwarz lackierten Fingernägel durch das melierte Haar, auf das Erika mit einiger Anstrengung zu starren vermied.
»Welcher Friseur?«
»›Haar und mehr‹.«
»Und wann sind Sie von dort nach Hause gekommen?«
»Was weiß ich. Mein Gott, Fragen über Fragen! Sie glauben doch wohl nicht, dass ich es war?«
Ihre Glupschaugen funkelten, jedoch weder vor Belustigung noch im Sinne eines Eingeständnisses.
»Wir befragen alle Bewohner des Hauses. Hauptsächlich möchte ich jedoch wissen, ob Sie vielleicht etwas gesehen oder gehört haben. Wir benötigen Ihre Mithilfe.«
»Wer ist wir?«
»Die Polizei«, antwortete Erika kurz. Sie saß auf einem Sessel aus den Vierzigerjahren, der mit einem modernen Bezug mit großen schwarzen, vogelähnlichen Formationen auf weißem Grund versehen war.
Alicias Füße steckten in rosafarbenen Fellpantoffeln. Sie sollten wahrscheinlich Schweinchen darstellen. Ein recht komischer Anblick, wenn man die rot gesträhnte Mähne, die quietschrosa Schweine an den Füßen und dazwischen den knallgelben Morgenrock betrachtete. Sie hatte sich auf der äußersten Kante eines schwarzen
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