Toedliche Blumen
entgegnete die Schwester.
»Können wir sie nicht so lange hier behalten? Ich würde sie dann formell einweisen und mich nach der Visite um sie kümmern«, sagte er.
Veronika warf ihm einen dankbaren Blick zu. Auf ihn war jedenfalls Verlass. Die endgültige Lösung des Problems würden sie eben wie immer auf unbestimmte Zeit verschieben müssen.
»Vertröste du sie so lange mit einer Tasse Kaffee«, trug Veronika der Schwester auf.
Dann setzten sie ihren Weg auf die Station fort.
»Wie sieht’s aus, Krümelchen, möchtest du?«
Linas Papa streckte sich über den Tisch und reichte Viktoria eine Toastscheibe, die gerade frisch aus dem Toaster gesprungen war. Heiß und wohl riechend.
Viktoria schüttelte dennoch den Kopf. Sie wollte nichts essen und verkroch sich auf dem Küchenstuhl, wollte lieber im Erdboden versinken und dort verschwinden wie ein feuchter Fleck.
»Du bist ziemlich blass um die Nase«, scherzte Linas Papa und betrachtete sie prüfend. »Eine kleine Scheibe schaffst du doch wohl, oder? Knabber wenigstens wie ein Mäuschen ein bisschen an ihr herum, damit du nicht völlig vom Fleisch fällst.«
Er legte die Brotscheibe neben sie auf den Tisch.
Linas Papa war nicht so anstrengend wie die Väter anderer Kinder und erst recht nicht so wie Gunnar. Außerdem mochte sie es, wenn Linas Papa sie »Krümelchen« nannte. Wahrscheinlich tat er es, weil sie ein bisschen zierlicher war als Lina. Ziemlich viel zierlicher eigentlich. Sowohl kleiner als auch dünner. Sie nahm es ihm auch nicht übel, wenn er sagte, dass sie so blass um die Nase sei, weil sie wusste, dass er es nicht tat, um sie zu ärgern oder ihr wehzutun. Jedenfalls nicht ernsthaft. Meistens sagte er so etwas wohl, um sie aufzuheitern. Und das gefiel ihr.
Sie überlegte, ob sie von ihrem Fahrradunfall erzählen sollte. Aber was gab es da schon zu sagen? Außerdem hatte sie nicht die Kraft dazu. Ihr ganzer Körper fühlte sich immer noch matt und schlapp an, und ihr Bauch tat weh.
Als sie am Morgen wach geworden war und die Jalousien hochgezogen hatte, war es draußen bereits hell gewesen. Nicht dass die Sonne schien, aber sie hatte den Eindruck, dass sie sich im Laufe des Tages zeigen würde. Solche Tage waren am allerschlimmsten. Sie mochte sie einfach nicht. Das heißt, wenn sie nichts Besonderes vorhatte. Aber das hatte sie heute eigentlich, da sich immer noch einige Maiblumen in ihrer Pappschachtel befanden. Wie in Linas auch. Doch irgendwie war ihr nicht nach Verkaufen zumute.
Gunnars Schuhe standen noch im Flur, und die Tür zu Mamas Schlafzimmer war geschlossen.
Sie fand es ein bisschen langweilig, allein aufzustehen. Auch im Kühlschrank entdeckte sie nichts, worauf sie Lust hatte, außer einem Rest Saft. Sie trank ein Glas, doch es brannte schrecklich im Magen.
Da sie nicht genau wusste, was sie mit sich anfangen sollte, machte sie das, was sie immer tat, wenn sie sich in einer solchen Situation befand. Sie zog sich an und ging zu Lina. Denn dort war immer etwas los, und falls nicht, fand sie es auch nicht weiter schlimm. Dort konnten sie zum Beispiel alle möglichen Comics durchblättern. Linas Brüder besaßen jede Menge Hefte, wie Viktoria gesehen hatte. Und außerdem konnte sie ja die Maiblumen als Vorwand nehmen. Ihre Schachtel hatte sie jedenfalls dabei.
Linas Familie war recht groß, und deshalb war auch meistens etwas los bei ihnen. Es fiel gar nicht auf, wenn sie auch noch dort war. Eine Person mehr oder weniger spielte keine Rolle. Deswegen hielten sie sich auch öfter bei Lina als bei ihr auf. Zu Hause war es einfach nicht so lustig, auch wenn sie ein eigenes Zimmer besaß.
Ihr Fahrrad konnte sie nicht benutzen. Es schepperte wie verrückt, und wenn sie die Pedale bewegte, schleiften und quietschten sie, sodass sie das ganze Viertel aufschrecken würde. Außerdem klemmten sie. Also ließ sie das Fahrrad stehen und ging zu Fuß.
Es war ein ganzes Stück bis zu Linas Haus. Außerdem ein recht langweiliger Weg, auf dem sie inzwischen jeden einzelnen Stein in- und auswendig kannte. Und die Laternenpfähle auch. Sie wusste genau, wie viele es waren. Vierundzwanzig Stück. Sie versuchte zu laufen, um schneller voranzukommen, doch ihr Knie begann zu schmerzen, und ihr Magen geriet in Aufruhr.
Linas Papa trug Pyjamahosen und ein weißes T-Shirt darüber, das über dem kugelrunden Bauch ziemlich spannte. Sein krauses Haar war schwarz, und in seinem Gebiss fehlte ein halber Schneidezahn, den er sich als kleiner Junge
Weitere Kostenlose Bücher