Tödliche Ernte
ihr Haar wieder fest. »Warum sollte er einen Wecker in den Flötenkasten legen?«
»Weiß der Himmel. Gut für uns. So bleibt man wachsam.«
»Ja, klar, Tally. Genau das hat mir gefehlt. Mein Leben ist sonst ja auch so langweilig.«
Ich lachte. Ich konnte nicht anders. »Pisarro macht das Gleiche wie wir? Ich stelle mir ständig vor, wie ich in der Zeitung etwas über Blessings Leichnam lese. Ich an Blessings Stelle würde abhauen.«
»Oh nein. Der kommt hier aus Southie, genau wie ich. Nicht so hübsch vielleicht, aber der hat die gleiche Luft geatmet. So einer verschwindet nicht.«
»Und das weiß auch Harry Pisarro.«
Nachdem Dixie und ich uns getrennt hatten, fuhr ich kreuz und quer durch Roxbury und fragte überall nach Chesa und ihrer Schwester Della. Keiner erkannte einen der beiden Namen oder meine Beschreibung von einer großen Frau mit gelben Katzenaugen und kurz geschnittenem Haar. Ich versuchte, Binny aufzuspüren, den Burschen mit dem Kopftuch, was mir einige anzügliche Blicke einbrachte, aber keinen Treffer.
Ich hoffte wirklich, dass McArdle Dellas Leiche nicht in den Fluss geworfen hatte, wie Kranak anfangs scherzhaft bemerkt hatte.
Vielleicht wusste ja sein Vermieter, wo er war. Ich fuhr Richtung Government Center, dem Teil von Boston, der am meisten den Straßenschluchten New Yorks ähnelte. Zwischen diesem Viertel und Roxbury lagen Welten. Ich fand die Gateway Properties auch, doch die Tür war verschlossen. Auf meine Nachfrage sagte man mir am Empfang, dass bei Gateway auch die Post für einen gewissen Daniel Brown einging.
Als ich das Gebäude verließ, klingelte mein Handy. Es war Gert.
In einer Poststelle an der Küste war eine Bombe hochgegangen. Die Überreste von sieben Opfern sowie des mutmaßlichen Täters waren auf dem Weg zu uns. Genau wie deren geschockte Angehörige.
Ich fuhr auf direktem Weg zum Kummerladen.
7
Die nächsten drei Tage waren anstrengend. Die Postbombe hatte nicht nur sieben Leben vernichtet, sondern gleichzeitig die Existenz der Angehörigen zerstört.
Das bedeutete Dutzende von Individuen, die wir beruhigten und trösteten, während sie wieder und wieder die Frage nach dem Warum stellten.
Am Sonntag begannen wir mit den Gruppensitzungen zur Trauerbewältigung.
Am selben Tag konnte ich ein bisschen Zeit erübrigen, um nach der Einäscherung bei Haywood mit Mrs Cheadle eine kleine Gedenkfeier für Chesa abzuhalten. Einige ihrer Freunde vom Ithaka College kamen, und alle sprachen mit bewegenden Worten von ihr.
Mit der Urne in der Hand verstreuten wir verstohlen eine Prise von Chesas Asche im Fleet Center, wo die Celtics und die Bruins spielten. Den Rest verteilten wir mit vor Kälte klammen Fingern im Hafen. Anschließend lud ich Mrs Cheadle zum Mittagessen ins Locke-Ober’s ein.
Dellas Tod und ihre fehlenden Überreste blieben die ganze Zeit über seltsam inexistent.
Montagmorgen ging ich erneut die Zeitungen durch, um zu sehen, ob Pisarro Blessing inzwischen erwischt hatte. Aber bis dato nichts, weshalb ich davon ausging, dass Blessing noch am Leben war. Als ich zur Arbeit fuhr, zählte ich die Tage, die vergangen waren, seit Roland Blessing Chesa geschlagen und erwürgt hatte. Sechs Tage. Das Klischee traf zu – es kam mir vor wie eine Ewigkeit.
* * *
Ich steckte den Kopf in Kranaks Büro. – »Was Neues über Blessing?«, fragte ich.
Kranak schüttelte den Kopf.
»Und die Laborergebnisse von Chesa?«
Er drehte sich auf dem Stuhl weg von mir.
»Wo ist der Bericht, Rob?« Ich sah über seine Schulter. Chesa Jones stand deutlich lesbar auf einer blauen Mappe. Kranak wollte, dass ich sie sah. Er wollte, dass ich sie nahm, wollte sie mir aber nicht selber geben.
Ich schnappte sie mir. »Hör auf, mich beschützen zu wollen, Rob.«
»Wer, ich?«
Ich nahm die Mappe mit in mein Büro und schloss die Tür.
Dem Laborbericht zufolge hatte Chesa eine Menge Alkohol in sich reingeschüttet. Mit anderen Worten: Sie und Blessing hatten so einiges gebechert. Nein, mehr als das. Sie hatte erst kurz davor noch Sex gehabt, aber keine Samenspuren. Wie es aussah, war der Sex heftig gewesen.
War sie vergewaltigt worden? Verdammt.
Blessing hatte sie geschlagen, hatte mit einer Flasche wieder und wieder und wieder auf sie eingeprügelt. Rums, ihr Gesicht.
Rums, die Augen. Rums, die Nase. Blut überall. Rums, die Gesichtsseite, der Kiefer, die Schläfe und … dann hatte er sie erwürgt.
Ich versuchte, es mir vorzustellen und stolperte über die
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