Tödliche Ernte
werden.
Genau genommen würde Harry Pisarro Blessing eben das antun, was er Chesa angetan hatte.
Lass es, sagte ich mir.
Noch ein Anruf.
Ich rief die Veteranen-Klinik in der Innenstadt an und fragte aus reiner Intuition nach Roland Blessings Sozialarbeiter. Bingo! Allerdings hatte der Mann gerade keinen Dienst. Ich hinterließ meine Nummer und eine Nachricht, dass ich als Psychologin die Angehörigen von Mordopfern betreute und auch Blessing wegen seiner Tochter Moira betreut hatte.
Ich ließ auch Tishs Namen fallen.
Jetzt war alles getan, alles, alles, alles.
Ich widmete mich wieder meinem eigentlichen Job, hatte aber Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren. Das mgap brummte, also begann ich damit, weitere Akten in den Computer zu übertragen, ein fortwährender Prozess.
Nach einer Stunde Arbeit meldete Veda sich.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Komm mal hoch, Tally«, sagte Veda. »Und bring die Informationen mit, die du über Rutledge hast.«
Rutledge?
Ach ja, Della Charles’ Arzt.
Genau.
Penny und ich begaben uns auf den Weg treppauf, vorbei an den Konferenzräumen, dem Verwaltungstrakt des Kummerladens und den Büros der Ärzte. Die Leiterin der Gerichtsmedizin hatte ihr Büro neben dem Eingang zur Kantine. Ein anspruchsloserer Ort war schwer vorstellbar. Veda schätzte es, weit ab vom Schuss zu sitzen, genau wie ihr Vorgänger.
Als sie die Tür aufmachte, sprang Penny an ihr hoch und legte ihr die Pfoten auf die Schulter.
»Sah-Nay!«, befahl Veda in einwandfreiem Tschechisch. Penny setzte sich sofort, und Veda grinste.
Ich bekam die englische Version von »Sitz«. Vedas Stimme klang ganz nach jüdischer Mutter. Sie war über sechzig und erinnerte an Dr. Ruth, mal abgesehen von ihrem leuchtend roten Haar.
Sie gab Penny eine Belohnung und nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz.
»Anscheinend gibt es ein Problem«, sagte ich.
Sie nickte. »Dr. Christopher Rutledge. Der ist das Problem.«
»Inwiefern?«
Sie schlug einen Aktendeckel auf und reichte ihn mir.
Es gab tatsächlich einen gewissen Dr. Christopher Rutledge am Mass General. Allerdings war er einer handschriftlichen Notiz von Veda zufolge im vergangenen Monat außer Landes gewesen.
Nie im Leben konnte er also Dellas Arzt gewesen sein.
8
Kein Rutledge. Auch keine Della. Und kein McArdle. Mein Kopf drehte sich.
Mir blieben noch ein paar Minuten, bevor wieder eine der reizbareren Trauergruppen der Postbombe zusammenkam, sodass ich einen äußerst dringenden Anruf bei einem von mgap s wichtigsten Förderern erledigen konnte. Ein Klopfen, dann kam Mary herein. Sie war klug und einfühlsam. Und sie hatte so schöne Augen. Ich wünschte nur, sie würde ihre Unsicherheit abstreifen und mit ihr den vielen Eyeliner und die Wimperntusche. Wir arbeiteten daran.
Ich beendete meinen Anruf.
»Worum geht’s, Mary?«
»Eigentlich irgendwie um Blessing.«
Sie war mir gegenüber immer äußerst ehrerbietig. Ich vermutete, dass sie ihrer Mutter gegenüber genauso gewesen war. Ich lächelte.
»Egal was, ich bin ganz Ohr.«
Sie lächelte schüchtern. »Du weißt ja, dass ich gerne hier arbeite.«
»Genauso gern wie in der Zeitschriftenredaktion?«
»Ich kann gar nicht glauben, dass du dich daran noch erinnerst.« Sie grinste. »Hier gefällt’s mir besser. Viel besser.«
»Also dann, was gibt’s so Spannendes?«
Sie drehte an ihrem Bettelarmband. »Gert hat erwähnt, dass Della Charles, deren Leiche ja verschwunden ist, die Schwester deiner Freundin war. Richtig?«
»Ja.«
»Ich glaube, ich habe sie mal getroffen.«
»Wo? Wann?«
»Ich meine, ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es war. Vor ein paar Wochen. In einem Jazzclub.«
»Hast du mit ihr gesprochen?«
Sie nickte. »Jetzt kommt der reichlich dumme Teil. Das war nämlich auf der Toilette. In einer der Kabinen war eine Frau, aber es gab kein Klopapier, also hab ich ihr etwas aus meiner Kabine rübergereicht. Als sie rauskam, hat sie sich bei mir bedankt. Sie hat sich als Della vorgestellt.« Mary zuckte die Achseln. »Meiner Meinung nach könnte es dieselbe Frau sein, nach der Beschreibung, die Gert mir gegeben hat.«
»War sie mit jemandem zusammen?«
»Mit zwei Typen. Einer hatte einen Cellokoffer, aber er hat dort nicht gespielt. Tja, und der andere, das war glaube ich Mr Blessing.«
Wow. »Blessing? Hast du mit ihm gesprochen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er hat mich schon immer nervös gemacht. Ich weiß, das ist nicht viel, aber ich dachte, du willst es vielleicht
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