Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
Tritt nach.
Im Zimmer war es stockdunkel, die Vorhänge waren geschlossen, durch das vom Gang einfallende Licht erkannte man nur schemenhafte Umrisse.
»Scheiße«, stöhnte der junge Mann mit dem Ziegenbart.
»O nein«, seufzte der Einsatzleiter, »so schlimm wär’s schon nicht geworden.«
In der Mitte des Raums lag ein umgekippter Stuhl. An der Decke darüber klebte, einer riesigen Spinne gleich, ein Ventilator. Daran hing eine nackte junge Frau, eine Schlinge um den Hals geknüpft. Sie war tot und so mager, dass die Männer jede Rippe ihres Brustkorbs ausmachen konnten.
Der Notarzt, der den Tod der Frau bestätigen sollte, hatte zu diesem Zeitpunkt eine Doppelschicht von annähernd sechzehn Stunden hinter sich. Er hielt sich nur noch mit Koffeintabletten und Energydrinks auf den Beinen und zählte im Geiste die Minuten, bis er endlich nach Hause fahren und sich ins Bett legen konnte. Gerade als er anfing, die Leiche der jungen Frau zu untersuchen, klopfte es an der Zimmertür. Es war der junge Beamte mit dem Kinnbart.
»Doktor? Könnten Sie mal kurz runterkommen? Einer der Typen, die wir verhören, scheint gerade einen Herzinfarkt zu kriegen.«
Der Arzt warf einen flüchtigen Blick in den Mund der Leiche, drehte sie zur Seite und nahm Anus und Genitalien in Augenschein. Dann schloss er seinen Koffer und lief mit dem Beamten die Treppe hinunter. Noch im Treppenhaus klingelte das Handy des Arztes. Der nächste Notruf. Auch diese Schicht werde ich nicht pünktlich beenden können, dachte er frustriert. Der vermeintliche Infarkt entpuppte sich als Kreislaufschwäche, wenige Minuten später stieg der Notarzt in seinen Wagen.
Erst als er mit Blaulicht die Eschersheimer Landstraße entlangbrauste, fiel ihm ein, dass er in der Hektik vergessen hatte, die Untersuchung der Leiche abzuschließen und den Totenschein auszustellen. Verärgert stieß er einen Fluch aus. Doch er beschloss, nicht zurückzukehren. Um halb zwei Uhr nachts goss er sich, an seinem Küchentisch sitzend, das dritte Glas Rotwein ein. Er wartete darauf, dass das Koffein aus seinem Blut und die Bilder der Nacht aus seinem Kopf verschwanden, und füllte das Formular aus. Todesart: unnatürlich. Todesursache: Suizid durch Erhängen.
4. März
»Können wir? Fehlt noch jemand?«
Kriminalhauptkommissar Hartmann, Leiter der fünften Mordkommission im Frankfurter Polizeipräsidium, blickte in die Runde. Die Antwort blieb aus, stattdessen schloss jemand die Tür des Besprechungszimmers. Hartmann zog ein Papiertuch aus dem Spender am Waschbecken und wischte über das Whiteboard, auf das jemand deutsche und osteuropäisch anmutende Namen in verschiedenen Farben geschrieben und mit Linien verbunden hatte. Die Farben verschmierten. Hartmann, Mitte fünfzig und hochgewachsen, fluchte leise, während die Männer und die Frau am Konferenztisch grinsten.
»Warum gibt’s in diesem Milliardengrab eigentlich keine Papier-Flipcharts mehr?«, motzte er.
Nora Winter hatte ihren Chef schon lange nicht mehr so müde erlebt. Der typische energische Ausdruck war aus seinen Augen verschwunden und vor Erschöpfung schien er buchstäblich geschrumpft zu sein. Kein Wunder, hatte Hartmann sich doch die Nacht im Bahnhofsviertel um die Ohren geschlagen. So gerne Nora ihm auch zur Hilfe geeilt wäre, sie beschloss, sich zurückzuhalten. Sie arbeitete seit einem Dreivierteljahr in der MK 5, einer von fünf Mordkommissionen im Frankfurter Polizeipräsidium an der Adickesallee. Trotzdem galt sie bei ihren männlichen Kollegen immer noch als Grünschnabel, und zurzeit war sie die einzige Frau im Team. Für viele ihrer Kollegen zwei gute Gründe, dem Chef die Tafel abzuwischen. Ob der junge Mann, der ihr gegenübersaß und offensichtlich neu im Team war, diese Ansicht teilte, wusste sie nicht, aber auch er machte keine Anstalten, Hartmann zur Hand zu gehen. Nora schlug die Beine übereinander, verschränkte die Arme und wartete. Nach geraumer Zeit stand Grauvogel auf und nahm sich der Tafel an.
Hartmann eröffnete die tägliche Teambesprechung. »Ich möchte euch den Kollegen Gideon Richter vorstellen. Er hat die Landespolizeischule mit Auszeichnung abgeschlossen, und es geht das Gerücht, er wäre Jahrgangsbester geworden, hätte die Nichte des Polizeipräsidenten nicht gemeinsam mit ihm das Examen abgelegt.«
Einige der Anwesenden lachten. So ein Affe, dachte Nora. Kaum ist eine Frau besser als ein Mann, heißt es, das kann nicht mit rechten Dingen
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