Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
Selbstmördern zur Routine.
»Und finde ich es als Einzige ungewöhnlich, dass die Frau sich im Dunkeln erhängt hat?« Nora sah sich im Raum um. Die Kollegen kritzelten mit Kugelschreibern Kästchen auf Notizblöcke. Offensichtlich hatte niemand außer Hartmann und ihr den Bericht gelesen.
Ihr Vorgesetzter sah Nora ratlos an.
»Also ich wüsste nicht, wie ich in einem stockfinsteren Zimmer auf einen Stuhl steigen und mich in eine Schlinge einfädeln könnte«, fuhr sie fort. »Nachher hat sie das Licht ja wohl kaum ausgeschaltet.«
Obwohl sie es nicht darauf angelegt hatte, erntete sie einige Lacher. Der Neue verzog keine Miene.
Hartmann schüttelte den Kopf. »Der Schwerpunkt der Operation lag auf dem illegalen Bordell. Der Arzt hat die Leiche gründlich untersucht und den Selbstmord bestätigt. Wäre er sich nicht sicher gewesen, dann hätte er Todesursache unbekannt geschrieben. Außerdem kenne ich keine Statistik, die untersucht, wie viele Leute sich prozentual im Dunkeln umbringen.«
Einige Kollegen lachten.
Aber Nora gab nicht so schnell auf. »Weiß man, ob sie an diesem Tag Freier hatte?«
Die Kollegen verloren die Lust an der Diskussion. Grauvogel murmelte genervt: »Ich weiß nicht, was das jetzt bringen soll«, und die anderen nickten zustimmend.
Dann meldete Gideon Richter sich zu Wort. »Frau Kollegin, vielleicht hat unsere Touristin es nicht geschafft, ihre Reisekosten zurückzuzahlen. Oder die Aussicht auf die Rückkehr in ein Land, in dem manche die Tapeten von den Wänden kratzen, um Suppe daraus zu kochen, hat sie deprimiert. Oder sie hat ihr Spiegelbild nicht mehr ertragen. Mehr als genug Gründe, sich das Leben zu nehmen.«
Nora wollte etwas erwidern, doch bevor der Streit eskalierte, fuhr Hartmann dazwischen. »Können wir später noch einmal auf das Thema zurückkommen?«
Sie zuckte die Schultern und seufzte ergeben. Richter lächelte zum ersten Mal, seit sie ihn beobachtete.
Eine Dreiviertelstunde später beendete Hartmann die Sitzung; das Thema kam nicht noch einmal zur Sprache. Die Mitarbeiter der MK 5 kehrten an ihre Schreibtische zurück. Einige diskutierten im Gang, Hartmann und Richter standen beieinander und glichen ihre Terminkalender ab. Als Nora an den beiden Männern vorbeiging und auf ihr Büro zusteuerte, unterbrach ihr Chef die Unterhaltung.
»Nora, tut mir leid. Ich weiß deine Kritik zu schätzen, aber wir sind sehr knapp an Personal. Ich muss mich auf das Wesentliche konzentrieren.«
Nora zog eine Augenbraue hoch. Wesentlicher als eine tote Frau?
Ihr Chef wusste ihren Blick zu deuten. »Ich bin nicht derjenige, der die Prioritäten setzt«, wehrte er sich mit erhobenen Händen. »Das ist unser neuer Innenminister. Jetzt herrscht wegen seiner Wahlversprechen Chaos im Rotlichtviertel und unsere V-Leute werden nervös. In einer halben Stunde liegt ein Aktenberg auf deinem Schreibtisch, den ich nicht mal meinem Steuerberater wünsche. Du wirst dich noch bei mir bedanken, dass ich uns die zusätzliche Arbeit erspare.«
»Interessieren wir uns eigentlich überhaupt noch für die Menschen, deren Schicksal wir aufklären sollen«, fragte Nora kühl, »oder geht’s nur noch um Prioritäten? Und wenn ja, nach welchen Kriterien werden die vergeben?«
Hartmann wusste keine Antwort und Nora konnte ihm nicht wirklich böse sein. In seiner operativen Zeit hatte man ihn als nur mittelmäßigen Kommissar gekannt, aber er hatte immer schon einen guten Instinkt bei der Auswahl seiner Mitarbeiter gehabt. Diese Fähigkeit und die Bereitschaft, sich zwischen Politik und Realität aufreiben zu lassen, hatte ihm eine Karriere im K 11 eingebrockt. Aber im Haus gab es schlimmere Chefs als ihn.
Gideon Richter verfolgte ihren Dialog aufmerksam. Wäre er nicht so unsympathisch, könnte ich ihn rein äußerlich durchaus attraktiv finden, dachte Nora. Er war einer von der Sorte, die sie mit Handkuss bei der Bereitschaftspolizei nahmen. Breite Schultern, muskulöse Statur, markantes Kinn, und er schien eine glückliche Hand sowohl bei der Auswahl seiner Anzüge als auch bei der seines Friseurs zu haben. Unter Polizisten war beides keine Selbstverständlichkeit. Das galt schon eher für seinen Henriquatre.
»Nora«, warf er ein, »ich darf doch Nora und du sagen, oder? Ich denke, man sollte mit einer Prostituierten, die den Dreck nicht mehr erträgt, in dem sie steckt, nicht allzu viel Zeit vergeuden. Eine weniger, die uns von wichtigeren Aufgaben abhält. Außerdem stehen wir
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