Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
verschluckten R und schloss sie herzlich in die Arme. Beinahe zwanzig Jahre lang arbeitete die kleine resolute Filipina nun schon als Haushälterin der Familie. Ma, wie Nora sie schon als kleines Mädchen genannt hatte, war es gewesen, zu der Nora gegangen war, um sich Rat zu holen, als sie ihren ersten festen Freund hatte. Und Ma hatte als Erste erfahren, dass sie beschlossen hatte, die Pläne ihres Vaters zu durchkreuzen und Polizistin zu werden.
Die Haushälterin unterdrückte ein Schniefen, sie wollte Nora gar nicht mehr loslassen. »Du warst lange nicht mehr da, meine Kleine. Komm schnell rein, sonst wirst du nass.«
Die Größe der Eingangshalle mit der altmodischen Freitreppe jagte Nora einen Schauer über den Rücken. Wie bei jedem Besuch erinnerte sie sich daran, wie sie als kleines Mädchen auf dem Steinfußboden Rollschuh gelaufen war, in der kleinen Mulde am Fuß der Treppe hingefallen war und sich ein Knie aufgeschlagen hatte. Wie wenige Jahre später einer der Sargträger ihrer Mutter in der gleichen Mulde gestolpert und beinahe gestürzt war. Und wie ein Aufatmen durch die Trauergäste ging, als er sich wieder fing. Heute, wo Nora sich beruflich eher in Unterkünften für Asylbewerber und Sozialwohnungen bewegte, war ihr dieser zur Schau gestellte Wohlstand peinlich.
Lange war sie nicht hier gewesen. Aber das war nicht ihre Schuld.
»Nora!« Wilfried Winter trat aus einer Seitentür im Erdgeschoss und nahm seine Tochter in die Arme. Den oberen Trakt nutzte er nicht mehr, seit Nora ausgezogen war. Im Erdgeschoss hatte er sich ein Schlafzimmer direkt neben der Bibliothek eingerichtet, und zusammen mit dem Gästebad und dem Esszimmer mit Blick auf den Garten waren das die einzigen Räume, die er noch bewohnte.
Winter entsprach ganz und gar dem Klischee eines Verlegerpatriarchen: Seine weiße Mähne fiel auf ein Tweed-Sakko, darunter trug er ein offenes blaues Hemd mit Kentkragen und einen Seidenschal. Obwohl er im letzten Jahr sechzig geworden war, sah er zehn Jahre jünger aus, und seine Bewegungen waren überraschend agil. Das hatte einen guten Grund.
»Gehen wir noch eine Runde joggen, bevor das Essen fertig ist?«, fragte er seine Tochter. Seit zwanzig Jahren nahm er jährlich an einem der zahlreichen Volksläufe teil. Am Anfang als eine reine PR-Aktion gedacht, wurde das Laufen bei ihm schnell zur Leidenschaft, wie vieles, was er tat. Von ihm hatte Nora die Begeisterung für den Sport geerbt. Doch in letzter Zeit war sie immer weniger zum Laufen gekommen und war insgeheim dankbar für seinen Vorschlag gewesen, Sportbekleidung mitzunehmen.
Nora sah nach draußen. Dicke Tropfen platschten auf die Autodächer, in der Ferne erhellten Blitze den düsteren Himmel.
»Es regnet«, sagte sie halbherzig, die Sporttasche in der Hand.
»Na und? In fünf Minuten hört es wieder auf.« Ihr Vater zog sie durch die Seitentür.
Zehn Minuten später liefen sie los, und wie von ihrem Vater prophezeit, war das Gewitter vorübergezogen. Nora atmete tief den Geruch nach feuchtem Gras und nassen Blättern ein. Die Luft war kühl und erfrischend.
Es tat gut, einen Vormittag am Schreibtisch oder im Sitzungszimmer durch Bewegung auszugleichen. Sie freute sich wie ein kleines Mädchen, über Pfützen zu springen und sich mit ihrem Vater kurze Sprintduelle zu liefern. Aber sie merkte schnell, dass seine Kondition die bessere war. Langsam geriet sie aus der Puste und nahm sich fest vor, öfter Sport treiben.
»Du hast mich lange nicht mehr besucht, Nora. Ich habe unsere regelmäßigen Mittagessen immer sehr genossen.«
»Ich auch, Papa«, schnaufte sie. »Bis ich irgendwann durchschaut habe, dass du diese Treffen dazu benutzen wolltest, mir den Polizeiberuf auszureden.«
»Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht: Ich halte deine Entscheidung für falsch«, sagte Wilfried. Seine Atmung schien völlig normal.
»Nachdem ich ausgezogen war, hatte ich gehofft, du akzeptierst es endlich.«
Wilfried verfügte erstaunlicherweise über ausreichend Luft, um zu lachen. »Nein, das werde ich nie akzeptieren. Du hättest Karriere machen können. Den Verlag übernehmen, die neuen Medien integrieren. Du bist doch ein schlaues Mädchen. Ich bin für so was eigentlich schon viel zu alt. Es hätte dir Spaß gemacht, ganz sicher. Stattdessen gehst du zu diesem … Kasperverein.«
»Die Polizei ist kein Kasperverein, sondern nimmt wichtige gesellschaftliche Funktionen wahr, Papa.« Kam ihr das nur so vor oder klang sie wie ein
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