Tödliche Fortsetzung - Bischoff, M: Tödliche Fortsetzung
Zucken im Mundwinkel verriet ihn. Nora hoffte, Maningning habe sich wirklich einen Scherz mit ihnen erlaubt.
Das Gespräch mit ihrem Vater hatte bei Nora einige Fragen aufgeworfen. Aber es hatte auch einen großen Motivationsschub ausgelöst. Zwischen den Vorfällen vor zwanzig Jahren und den Morden an den Pawlenko-Schwestern musste ein Zusammenhang bestehen.
Zurück im Präsidium hatte sie in der Archivdatenbank den Bestand an Unterlagen zum Fall Drachentöter abgefragt und ihren Bedarf beim Leiter der Kriminalaktensammlung angemeldet.
Sie trank noch einen Kaffee und fuhr dann mit dem Aufzug hinunter. Das Archiv nahm den größten Teil des gelben Traktes im ersten Obergeschoss ein.
Aus den Neunzigerjahren lagen nur wenige Fallunterlagen in digitaler Form vor. Darum blieb demjenigen, der Nachforschungen zu dieser Zeit anstellen wollte, nichts anderes übrig, als sich in die tageslichtlosen Räume zu begeben und in den Mikrofiches und Regalen zu stöbern. Anders als das Fernsehen einem weismachen wollte, war die Kriminalaktensammlung jedoch kein finsterer und staubiger Ort. Staub und Feuchtigkeit waren die natürlichen Feinde der Aktenordner und der Millionen Blatt Papier, die sie füllten, und die Verwaltung hatte keine Mühen gescheut, die Unterlagen ›artgerecht‹ unterzubringen.
An der schweren Brandschutztür tippte Nora einen Zahlencode ein. Die Tür schwang auf. Der Leiter, ein kleiner Mann mit Halbglatze, nahm sie in Empfang und gemeinsam luden sie die Ordner auf einen Rollwagen. Es handelte sich vor allem um Personeninformationen und Vernehmungsprotokolle. Allein zwei Ordner waren Martin Kanther ge widmet. Nora quittierte den Erhalt, aber bevor sie sich wieder auf den Rückweg machte, gewann ihre Neugier die Oberhand. Von ihrem Vater hatte sie so viel über Kanther gehört, dass sie darauf brannte, herauszufinden, wie er aussah. Sie schlug den Deckel des ersten Ordners auf. Hinter der Klarsichthülle blickte ihr ein ernster, leicht fülliger junger Mann entgegen. Dunkelblonde Strähnen fielen ihm in die Stirn. Eine schwere Hornbrille beherrschte sein Gesicht und verlieh ihm das Aussehen eines Sonderlings. Genauso, wie man sich einen jungen intellektuellen Schriftsteller vorstellte. Trotzig sah er in die Kamera. Doch da verbarg sich auch etwas anderes in seinem Blick: Angst.
Wovor hatte er sich gefürchtet?
Er klammerte sich an eine Ausgabe seines Romans. Das Titelbild ließ die Innenseite eines muskulösen Unterarms erkennen, mit der Tätowierung eines Drachen. In der Hand hielt er ein schweres Seil, zu einer Henkersschlinge geknüpft. Im Hintergrund erahnte man die Umrisse einer nackten Frau, die auf einem Bett lag; ihr Kopf hing unnatürlich verdreht über die Bettkante herab.
Unter das Porträt hatte jemand eine Bemerkung gekritzelt: M. Kanther, Autor von Drachentöter, FASZ vom 21. Oktober 1990.
»Gisbert, hast du den Kollegen Richter heute schon gesehen?«
Nora stand in der Tür zu dem Büro, das Richter sich wäh-rend seines zeitweiligen Aufenthaltes in der Sonderkommission Ukraine mit Gisbert Grauvogel teilte.
Gisbert antwortete, ohne von seinem Bildschirm aufzusehen oder seine Hände von den Tasten zu nehmen. »Dem Kollegen Richter ist ein komplettes Lausbatallion über die Leber gelaufen. Er kam um halb vier aus Hartmanns Büro, donnerte ein paar Mal gegen seinen Schreibtisch und murmelte dann irgendetwas Unverständliches, bevor er wieder hinausstürmte. Seitdem gilt er als verschollen.«
»Hast du eine Ahnung, wohin er gegangen ist?«, fragte Nora. Gisbert musterte sie.
Er überlegte, wie viel er verraten durfte.
»Gisiii …«
Grauvogel kratzte sich am Kopf. Dann gab er sich einen Ruck. »Er sagte, er wolle runter zum Main fahren, den Kopf auslüften. Zum Ruderverein. Aber von mir hast du es nicht.«
»Danke, Gisbert, du hast was gut bei mir«, rief Nora und war schon zur Tür hinaus.
Grauvogel sah ihr nach und kramte ein kleines schwarzes Notizbuch aus der obersten Schublade seines Schreibtischs. Er blätterte, bis er bei der Seite mit der Überschrift Nora angelangte. Dort fügte er einen Strich hinzu. Mit den anderen waren es jetzt fünf.
Nora parkte den Wagen ein paar Straßen vom Mainufer entfernt, setzte eine große Sonnenbrille auf und spazierte zum Fluss hinunter. Sie genoss die warmen Sonnenstrahlen. Im Schatten der Friedensbrücke umrundete sie das Vereinshaus des Ruderklubs und sah von dem breiten Fußgängerweg, der neben dem Ufer verlief, zu dem
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